»Wenn ich nur nicht so müde wäre,« seufzte Asbjörn Krag und griff sich fieberisch mit den Händen an die Stirn. »Haben Sie also mit dem Arzt gesprochen?«
»Ja, alles ist in Ordnung. Er ist unser Mann. Er bat mich, Sie zu grüßen und Sie an die ›Witwe mit den zwei Kindern‹ zu erinnern.«
»Ah,« rief Krag mit einem matten Lächeln. »Ja, ja, darum kamen mir seine Gesichtszüge in meiner Betäubung so bekannt vor. Ausgezeichnet! Der steht zuverlässig auf unserer Seite.«
Nach einiger Zeit begann sich der Kranke unruhig im Bette hin und her zu werfen. Er bemühte sich, herauszukommen und richtete sich auch auf den Ellbogen auf. Holst eilte zu ihm hin.
»Was haben Sie denn, lieber Freund?« fragte er. »Regen Sie sich doch nicht auf!«
»Wir sind so wenige, und sie sind so viele« rief Krag. »Der Teufel hat viele Fäden gesponnen – überallhin. Darum muß er bewacht werden. Und das müssen vorläufig Sie tun.«
»Seien Sie ganz beruhigt. Das werde ich.«
Asbjörn Krag wies auf eine Schreibtischlade und bat Holst, sie herauszuziehen und ihm den Revolver zu reichen, der zu oberst darin lag.
»Alle sechs Läufe sind geladen,« sagte er, »und ich fühle mich nicht sicher, wie ich daliege.«
Holst reichte ihm den Revolver, den der Kranke unter sein Kopfkissen schob.
»Ist es notwendig, daß ich Sie verlasse?« fragte Holst.
»Absolut. Sie müssen dem roten Teufel folgen. Hier handelt es sich um große Werte, vielleicht um viele Menschenleben.«
Der Telegrapheningenieur drückte Asbjörn Krag sanft in die Kissen zurück.
»Schlafen Sie jetzt,« sagte er. »Bedenken Sie. Wir müssen Sie bald wieder auf den Beinen haben.«
»Ja,« seufzte Krag. »Ich bin auch so müde! Und vollständig hilflos! Aber meine Zeit kommt schon. Nur Geduld, nur Geduld!«
Und damit schlummerte Asbjörn Krag wieder ein.
VI.
Das Löschpapier
Im Laufe des dritten Tages konnte Asbjörn Krag tatsächlich das Bett verlassen, aber erst am Morgen des vierten Tages fühlte er sich frisch genug, um seine Arbeit wieder aufzunehmen. Während der Dauer der Krankheit hatten ihn nur der Arzt und der junge Ingenieur besuchen dürfen. Krag hatte Holst als einen rührigen, zuverlässigen Mann schätzen gelernt, wie er auch den Arzt schon von einer früheren Angelegenheit her kannte. Von diesem erfuhr er, daß Ingenieur Barra sich richtig noch einmal an ihn gewandt hatte, um sich nach Krags Befinden zu erkundigen. Und man hatte ihm nach dem Wunsche des Detektivs mitgeteilt, daß es mindestens seine acht bis zehn Tage dauern müßte, bis Krag außer Bett sein würde. Aber es war dem Doktor vorgekommen, als ob Barra bei dieser Nachricht gestutzt und ihn mit einem wunderlich prüfenden Blick gemessen hätte.
»Er stutzte?« fragte Krag. »Zeigte er denn keine Spur der Befriedigung – ich möchte beinahe sagen, der Freude?«
»Im Gegenteil. Es sah aus, als wäre er unangenehm überrascht, und er ging mit einem Grinsen, ohne zu danken, kaum daß er grüßte.«
»Hm! So, so! Er wird doch nicht etwa ahnen.«
Nun war Asbjörn Krag sofort entschlossen, in die Stadt zu gehen. Er wollte absolut nicht mehr auf den Rat des Arztes hören, doch wenigstens noch einen Tag zu warten, um seine Kräfte zu sammeln.
»Nein, nein, jetzt gilt es, rasch zu handeln,« rief er. »Jede Stunde, die uns noch enteilt, kann verhängnisvoll werden.«
Sowohl der Doktor wie Holst wollten gerne an der weiteren Entwicklung der Sache teilnehmen und baten darum Krag inständig um die Erlaubnis, ihm weiter behilflich sein zu dürfen. Nach kurzer Ueberlegung ging der Detektiv darauf ein. Helfer mußte er ja doch haben, und da konnte er ebensogut zwei zuverlässige Freunde, die in die Entwicklung der Sache eingeweiht waren und vor Interesse und Spannung glühten, verwenden, wie irgendwelche Beamte der Detektivabteilung.
Nun waren sie also ihrer drei auf der Jagd nach dem Rotbärtigen zur Verhinderung seiner verbrecherischen Pläne. Asbjörn Krag selbst, der Doktor und der junge Telegrapheningenieur, alle gleich darauf erpicht, diesem kleinen gefährlichen Elektriker das Spiel zu verderben.
»Hoffentlich«, sagte der Detektiv, »ist Barra wenigstens jetzt noch in der Meinung, daß ich bettlägerig bin. Aber wir müssen jedenfalls überaus vorsichtig und behutsam auftreten.«
Er kramte eine Weile in seiner wohlausgerüsteten Garderobe, reich wie ein Maskengeschäft an den verschiedensten Verkleidungsgegenständen und -mitteln. Endlich fand er, was er brauchte, und begab sich wieder in sein Schlafzimmer. Der Doktor und der Ingenieur warteten in seinem kleinen Salon. Eine kleine halbe Stunde später erschien Krag wieder. Er war vollständig verändert und sah aus wie ein heimgekehrter begüterter Amerikaner oder ein glänzend gestellter englischer Geschäftsreisender. Sein schwarzes Haar war nun blond-gekräuselt, und er hatte sich einen kräftigen Vollbart zugelegt.
»Ich gehe zuerst, habe noch ein paar rasche Untersuchungen zu erledigen – wesentlich per Telephon an Hotels,« fügte er rasch hinzu. »Dann geht ihr, einer nach dem anderen, und wir treffen uns, präzise in einer Stunde, an der Ecke der Carl-Johannstraße und Ackersgasse. Wir müssen unsere Uhren vergleichen, dann kommt jeder aus einer anderen Richtung, ich aus der Carl-Johannstraße, ihr jeder aus einem anderen Teil der Ackersgasse, und wir stoßen zufällig zusammen.«
Nachdem die Uhren in Übereinstimmung gebracht waren, ging zuerst Krag, elastisch und kräftig, wieder trug er den Kopf leicht und stolz, wie ein Mann, der seiner selbst sicher ist, und niemand hätte ihm angesehen, daß er erst vor kurzer Zeit eine sichere Beute des Todes geschienen hatte. In angemessenen Zwischenräumen gingen dann zuerst der Doktor, zuletzt der Ingenieur.
Präzise zur versprochenen Stunde trafen sich die drei Bundesgenossen an der verabredeten Straßenkreuzung und begrüßten sich, die Ueberraschten spielend, auf das herzlichste.
Asbjörn Krag sprach laut und mit einem leicht merklichen fremden Akzent, so daß die Leute ihn ansahen. Sie spazierten ein Weilchen auf und ab, schienen sich dann über ein Lokal zu einigen und gingen ins Grand Café, wo sie sich in einer gemütlichen, ziemlich dunklen Ecke niederließen.
»Der Coup ist noch nicht ausgeführt,« sagte Krag mit leiser Stimme, als der Kellner ihnen die bestellten Getränke gebracht hatte, »aber nach meinen Untersuchungen zu urteilen, muß es jetzt bald losgehen.«
»Um was handelt es sich?« fragte Holst.
»Wahrscheinlich um einen Ueberfall, auf einen Eisenbahnzug, glaube ich. Barra hat viele Helfer.«
»Welchen Zug, und warum?«
»Ich kann es noch nicht mit Bestimmtheit sagen. Ich vermute, daß die eine oder andere Wertsendung in dem Zuge befördert wird, auf die er die Hand legen will.«
»Wertsendung, Diamanten vielleicht?«
»Kaum. Es ist mir noch unmöglich gewesen, darüber Klarheit zu erlangen. Eher dürfte es die Abbezahlung einer Staatsanleihe sein oder irgendeiner anderen ausländischen Kapitalplacierung.«
»Aber wie kann Barra davon erfahren haben?« fragte Holst.
»Sie vergessen,« erwiderte Krag mit leichtem Spott, »daß der rotbärtige Ingenieur sich ja jederzeit zum Herrn über eure Telegraphenlinien machen kann. Diese Art Telegramme aufzuschnappen war jedenfalls seine ursprüngliche Absicht. Uebrigens sind da noch mehrere mystische Punkte. Vor allem seine Experimente, das elektrische Licht in ganz Christiania auszulöschen. Sollte das eine Mitteilung an seine Mitverbündeten sein, oder? Nun ja, wir werden schon darauf kommen. Barra ist natürlich aus dem Elektrizitäts-Etablissement verschwunden, wo er seinen Experimentierraum