Biancona? Das ist ja die Primadonna der italienischen Oper, die hier ein so unglaubliches Furore machen soll. Kennst Du die Dame?“
„Oberflächlich,“ sagte Reinhold, ihm den Brief rasch aus der Hand nehmend. „Ich wurde ihr kürzlich beim Consul Erlau vorgestellt.“
„Und Du correspondirst bereits mit ihr?“
„Nicht doch! Der Brief enthält nicht eine einzige Zeile.“
Hugo lachte laut auf. „Ein Couvert mit einer vollständigen Adresse darauf und einem sehr umfangreichen Papier darin und keine einzige Zeile? Lieber Reinhold, das ist noch wunderbarer, als meine Geschichte mit der Riesenschlange. Verlangst Du im Ernst Glauben dafür? Nun sieh nur nicht so finster aus! Ich beabsichtige durchaus nicht, mich in Deine Geheimnisse zu drängen.“
Statt aller Antwort zog der junge Mann das Papier aus dem noch nicht geschlossenen Couverte hervor und hielt es dem Bruder hin, der verwundert darauf niederblickte.
„Was soll das heißen? Nur ein Lied – Noten und Text – kein Wort der Erklärung dabei – einzig Dein Name darunter. Hast Du das etwa componirt?“
Reinhold nahm das Papier wieder zurück, schloß den Brief und steckte ihn zu sich.
„Es ist ein Versuch, weiter nichts. Sie ist Künstlerin genug, um darüber zu urtheilen. Mag sie es annehmen oder verwerfen!“
„Du componirst also auch?“ fragte der Capitain, dessen Gesicht auf einmal ernst geworden war. „Ich glaubte nicht, daß Deine leidenschaftliche Neigung für die Musik bis zum eigenen Schaffen ginge. Armer Reinhold, wie hältst Du es nur aus in diesem Leben, unter all dieser Engherzigkeit und Beschränktheit, die jeden Funken von Poesie als überflüssig oder gefährlich ersticken möchte? Ich habe es nicht gekonnt.“
Reinhold hatte sich wieder auf den Sessel vor seinem Flügel geworfen. „Frage mich nicht, wie ich es aushalte!“ entgegnete er gepreßt. „Genug, daß ich es thue!“
„Ich ahnte es längst, daß Deine Briefe nicht aufrichtig waren,“ fuhr Hugo fort, „daß hinter all der Zufriedenheit, mit der Du mich täuschen wolltest, sich etwas ganz Anderes barg. In dieser einen Woche hier im Hause ist mir die Wahrheit klar geworden, trotzdem Du Dir alle nur erdenkliche Mühe gabst, sie mir zu verbergen.“
Der junge Mann blickte düster vor sich hin. „Wozu sollte ich Dich in der Ferne auch noch mit der Sorge um mich quälen? Du hattest genug zu thun, Dich selber durchzubringen, und es gab ja auch eine Zeit, wo ich zufrieden war, oder es wenigstens zu sein glaubte, weil mein ganzes geistiges Leben wie in einem Banne lag, wo ich in dumpfer Gleichgültigkeit Alles über mich ergehen ließ und willig der Kette die Hand bot. Ich habe es gethan, nun ja! Ich habe aber auch mein ganzes Leben lang daran zu tragen.“
Hugo war zu ihm getreten und legte die Hand auf seine Schulter. „Du meinst Deine Heirath mit Ella? Bei der ersten Nachricht davon wußte ich, daß es einzig das Werk des Onkels war.“
Ein bitteres Lächeln spielte um die Lippen des jungen Mannes, als er fast schneidend erwiderte: „Er war von jeher ein ausgezeichneter Rechenmeister, und das hat er auch hier wieder gezeigt. Der arme, aus Gnade und Barmherzigkeit aufgenommene Verwandte mußte es ja als ein Glück betrachten, daß man ihn zum Sohn und Erben des Hauses erhob, und die Tochter mußte doch einmal verheirathet werden; da galt es, mit ihrer Hand der Firma einen Nachfolger zu sichern, der den gleichen Namen trug. Es war nicht Ella’s Schuld und nicht die meine, daß man uns so zusammenband. Wir waren Beide jung, willenlos, ohne Verständniß des Lebens und unser selbst. Sie wird es ewig bleiben – wohl ihr! Mir ist es nicht so gut geworden.“
Man hätte es den kecken braunen Augen des jungen Capitains kaum zugetraut, daß sie so ernst blicken konnten, wie in diesem Momente, wo er sich zu dem Bruder herabbeugte. „Reinhold!“ sagte er halblaut. „In der Nacht, als ich entfloh, um mich einer Willkür zu entreißen, die mir Freiheit und Zukunft verschütten wollte, da hatte ich Alles geplant und vorhergesehen, nur das Eine, Schwerste nicht, die Minute, wo ich an Deinem Bette stand, um Dir Lebewohl zu sagen. Du schliefst ruhig und ahntest nichts von der Trennung, aber ich – als ich Dein kleines blasses Gesicht auf dem Kissen sah und mir sagte, daß ich es nun lange Jahre nicht, daß ich es vielleicht nie wieder sehen würde, da wollten all die Freiheitsgelüste nicht Stand halten, und ich rang schwer mit der Versuchung, Dich zu wecken und mit mir zu nehmen. Später, als ich die dornenvolle Laufbahn des abenteuernden, heimathlosen Knaben mit all ihren Gefahren und Entbehrungen kosten mußte, da habe ich oft Gott gedankt, daß ich der Versuchung widerstand, wußte ich Dich doch sicher und geborgen im Hause der Verwandten, und jetzt“ – die kräftige Stimme Hugo’s bebte wie im unterdrückten Grolle oder Schmerz – „jetzt wollte ich, ich hätte Dich damals mit hinausgerissen in Mangel und Entbehrung, in Sturm und Gefahr, aber auch in die Freiheit hinaus; es wäre besser gewesen.“
„Es wäre besser gewesen,“ wiederholte Reinhold tonlos; dann auf einmal erhob er sich ungestüm. „Laß uns abbrechen! Wozu die Klagen, die das einmal Geschehene doch nicht ändern? Komm’! Man erwartet uns oben im Hause.“
„Ich wollte, ich hätte Dich auf meiner ‚Ellida‘ und wir könnten der ganzen Sippschaft den Rücken kehren auf Nimmerwiedersehen!“ sagte der junge Seemann mit einem Seufzer, während er sich anschickte, der Aufforderung nachzukommen. „So schlimm habe ich mir die Sache doch nicht gedacht.“
Die Brüder hatten kaum das Haus betreten, als die Unentbehrlichkeit Hugo’s sich auch schon wieder zu zeigen begann. Von nicht weniger als drei Seiten ward er zugleich in Anspruch genommen. Jeder verlangte seinen Rath, seine Hülfe. Der junge Capitain schien die beneidenswerthe Fähigkeit zu besitzen, sich sofort von einer Stimmung in die andere werfen zu können, denn unmittelbar nach dem tiefernsten Gespräch mit dem Bruder sprühte er schon wieder von Heiterkeit und Uebermuth, half Jedem, sagte Jedem Artigkeiten und verspottete dabei Alle in der schonungslosesten Weise. Diesmal war es der Buchhalter, der ihn schließlich „abfing“, wie Jonas sich ausdrückte, um seine Vereinsangelegenheit vorzutragen, und während die beiden Herren darüber debattirten, trat Reinhold in das Eßzimmer, wo er seine Frau bereits mit den Vorbereitungen für die erwähnte Gesellschaft beschäftigt fand.
Ella war heute in Sonntagstracht, aber das änderte wenig in ihrer Erscheinung. Der Anzug von feinerem Stoffe war deshalb nicht kleidsamer; die Haube, die ihrem Schwager ein solches Entsetzen einflößte, umgab und entstellte auch heute das Gesicht. Die junge Frau widmete sich ihren Hausfrauenpflichten so emsig und ausschließlich, daß sie kaum den Eintritt ihres Gatten zu bemerken schien, der sich mit ziemlich finsterer Miene ihr näherte.
„Ich möchte Dich doch bitten, Ella,“ begann er, „in Zukunft etwas mehr Rücksicht auf meine Wünsche zu nehmen und meinem Bruder in der Weise zu begegnen, die er von seiner Schwägerin erwarten kann und darf. Ich sollte meinen, das Benehmen Deiner Eltern und des ganzen Hauses könnte Dir als ein Beispiel dienen; aber Du scheinst ein eigenes Vergnügen darin zu finden, ihm jedes Verwandtenrecht zu versagen und ihm eine förmliche Antipathie zu zeigen.“
Die junge Frau sah bei dieser in nichts weniger als liebevollem Tone gegebenen Zurechtweisung genau so furchtsam und hülflos aus, wie damals, als die Mutter von ihr verlangte, sie solle gegen die musikalische „Manie“ ihres Mannes einschreiten. „Sei nicht böse, lieber Reinhold!“ entgegnete sie zaghaft, „aber ich – ich kann wirklich nicht anders.“
„Du kannst nicht?“ fragte Reinhold scharf. „Freilich, das ist ja Deine stete Antwort, wenn ich etwas von Dir verlange, und ich dächte, es käme doch selten genug vor, daß ich einmal eine Bitte an Dich richte. Diesmal aber bestehe ich ganz entschieden darauf, daß Du Dein Benehmen gegen Hugo änderst. Dieses scheue Ausweichen und consequente Schweigen auf jede seiner Anreden ist ja geradezu lächerlich. Ich bitte Dich jetzt ernstlich, etwas mehr dafür zu sorgen, daß ich meinem Bruder nicht gar zu bemitleidenswerth erscheine.“
Ella schien im Begriff zu sein, zu antworten; aber die letzte schonungslose Bemerkung schloß ihr die Lippen. Sie senkte den Kopf und machte auch nicht den leisesten Versuch mehr, sich zu vertheidigen. Es war eine Bewegung so sanfter, geduldiger Fügsamkeit, daß sie wohl Jeden entwaffnet hätte;