rechnen, Herr Capitain? Und hinsichtlich unserer Präsidentenwahl habe ich Ihr Wort, daß Sie zu der Opposition stehen?“
„Ganz der Ihrige, verehrter Herr!“ tönte Hugo’s Stimme. „Und selbstverständlich nur bei der Opposition. Ich schlage mich grundsätzlich immer zur Opposition, wo eine existirt; es ist gewöhnlich die einzige Partei, bei der es amüsant zuzugehen pflegt. Bitte, die Ehre ist ganz auf meiner Seite.“
Der Buchhalter ging, und der Herr Capitain erschien jetzt im Zimmer. Er schien Lust bekommen zu haben, das vorhin gegebene Versprechen einzulösen und die junge Frau seines Bruders gleichfalls von seiner Vortrefflichkeit zu überzeugen, denn er näherte sich ihr mit der ganzen Keckheit und dem ganzen Uebermuthe seines Wesens, dem eine gewisse ritterliche Galanterie beigemischt war.
„Also dem Zufalle muß ich es danken, daß ich endlich einmal meine liebenswürdige Schwägerin zu Gesicht bekomme und sie mir nothgedrungen auf einige Minuten Stand halten muß? Sie selbst freilich hätte mir dieses Glück nie zu Theil werden lassen. Ich habe mich bereits heute Morgen bitter bei Reinhold über diese Zurücksetzung beklagt, die verdient zu haben ich mir in keiner Weise bewußt bin.“
Er wollte ihre Hand ergreifen, jedenfalls um sie zu küssen; aber Ella zog mit einer bei ihr ganz ungewöhnlichen Entschiedenheit die Hand zurück.
„Herr Capitain!“
„Herr Capitain!“ wiederholte Hugo entrüstet. „Nein, Ella, das geht zu weit. Ich hätte als Schwager wohl mehr als je ein Recht, das vertrauliche ,Du‘ zu beanspruchen, das Sie dem Vetter und Jugendgespielen nie verweigert haben; aber da Sie vom ersten Tage meines Hierseins an die fremde Anrede so entschieden betonten, so folgte ich dem mir gegebenen Winke. Dieses ,Herr Capitain‘ aber dulde ich nicht; das ist eine Beleidigung, gegen die ich Reinhold zu Hülfe rufe. Er soll mir sagen, ob ich es wirklich ertragen muß, mich von diesen Lippen ,Herr Capitain‘ genannt zu hören.“
„Nicht doch!“ sagte Reinhold, indem er sich zum Gehen wandte. „Ella wird diese Anrede wie überhaupt den fremden Ton gegen Dich fallen lassen. Ich habe sie soeben ausdrücklich darum gebeten.“
Er ging wirklich, und sein Blick befahl der jungen Frau ebenso bestimmt, zu bleiben, als sein Ton Gehorsam forderte. Dem Capitain entging Beides nicht.
„Um Gotteswillen, komm’ mir nicht mit Deiner Ehemannsautorität dazwischen! Willst Du die Freundlichkeit gegen mich etwa anbefehlen?“ rief er dem Bruder nach und wandte sich dann rasch wieder zu Ella, während er galant fortfuhr: „Das wäre der sicherste Weg, mich nun und nimmermehr Gnade finden zu lassen vor den Augen meiner schönen Schwägerin. Aber nicht wahr, dessen bedarf es auch nicht zwischen uns? Sie erlauben mir endlich, Ihnen den schuldigen Tribut der Ehrfurcht zu Füßen zu legen, Ihnen die freudige Ueberraschung zu schildern, mit der ich die Nachricht empfing –“
Hier hielt Hugo plötzlich inne und schien aus dem Concepte zu kommen. Ella hatte das Auge emporgeschlagen und ihn angesehen. Es war ein Blick stillen schmerzlichen Vorwurfes, und derselbe Vorwurf lag auch in ihrer Stimme, als sie erwiderte:
„Lassen Sie doch wenigstens mich in Frieden, Herr Capitain! Ich dächte, Sie hätten heute bereits hinreichenden Zeitvertreib gehabt.“
„Ich?“ fragte Hugo betroffen. „Wie meinen Sie das, Ella? Sie glauben doch nicht etwa –“
Die junge Frau ließ ihn nicht ausreden. „Was haben wir Ihnen denn gethan?“ fuhr sie fort, und so furchtsam die Stimme auch im Anfange noch bebte, sie gewann sichtbar an Festigkeit bei jedem Worte. „Was haben wir Ihnen denn gethan, daß Sie uns immer nur verspotten von dem Tage Ihrer Rückkehr an, wo Sie meinen Eltern eine Reuescene vorspielten, über die Sie wahrscheinlich nachher sehr gelacht haben, bis zur heutigen Stunde, wo Sie das ganze Haus zur Zielscheibe Ihres Uebermuthes machen? Reinhold duldet es freilich, daß wir Tag für Tag so herabgesetzt werden; er muß es wohl in der Ordnung finden. Aber ich, Herr Capitain,“ – hier hatte Ella’s Ton die vollste Sicherheit gewonnen – „ich finde es nicht in der Ordnung, daß Sie ein Haus, in welchem Sie, trotz alledem, was geschehen ist, mit der alten Liebe wieder aufgenommen worden sind, tagtäglich mit Spott und Hohn überschütten. Wenn Ihnen dies Haus und diese Familie so sehr kleinlich und lächerlich erscheinen, so hat Sie ja Niemand hergerufen. Sie hätten draußen bleiben sollen in der Welt, von der Sie soviel zu erzählen wissen. Meine Eltern verdienen mehr Schonung und Achtung, selbst für ihre Schwächen, und unser Haus mag sehr einfach sein, aber es ist doch immer noch zu gut für den Spott eines – Abenteurers.“
Sie wandte ihm den Rücken und verließ das Zimmer, ohne ein Wort der Erwiderung abzuwarten. Hugo stand da und sah ihr nach, als habe sich soeben eine der unmöglichen Scenen aus seinen „Indianergeschichten“ leibhaftig vor seinen Augen ereignet. Es geschah dem jungen Seemanne wahrscheinlich zum ersten Male in seinem Leben, daß er mit der Geistesgegenwart auch die Sprache verlor.
„Das war deutlich,“ sagte er endlich, indem er sich ganz fassungslos niedersetzte, aber schon in der nächsten Minute sprang er wie elektrisirt empor und rief:
„Sie hat sie wahrhaftig – die schönen blauen Augen des Kindes. Und das muß ich erst heute und jetzt entdecken! Freilich wer hätte auch unter diesem Ungethüm von Haube diesen Blick gesucht. ‚Wir sind zu gut für den Spott eines Abenteurers!‘ Schmeichelhaft ist das gerade nicht, aber verdient war es, wenn ich es auch freilich aus diesem Munde am allerletzten zu hören erwartete. Also böse muß man Frau Ella machen, wenn man sie so sehen will? Das werde ich doch öfters probiren.“
Hugo machte eine Wendung, in das Besuchszimmer hinüberzugehen, aber auf der Schwelle blieb er noch einmal stehen und blickte nach der Thür hinüber, durch die seine junge Schwägerin sich entfernt hatte. Der Zug von Spott und Uebermuth in seinem Gesichte war völlig verschwunden; es hatte einen nachdenklichen Ausdruck angenommen, als er leise sagte: „Und da glaubt Reinhold nur, daß sie blaue Augen hat? Unbegreiflich!“
3
Der große Concertsaal von H. schien diesmal die Elite der ganzen Stadt in seinen Räumen zu vereinigen. Es handelte sich um eines jener Concerte, die, zu irgend einem wohlthätigen Zweck in’s Werk gesetzt, von den ersten Familien der Gesellschaft in Protection genommen wurden, und bei denen die Mitwirkung einerseits und das Erscheinen andererseits als Ehrensache galt. Das Programm wies heute nur Namen von Berühmtheiten auf, sowohl was die Musikstücke als was die Ausführenden betraf, und im Uebrigen hatte man durch möglichst hohe Preise dafür gesorgt, daß das Publicum vorwiegend, wenn nicht ausschließlich, den ersten Kreisen angehörte.
Noch hatte das Concert nicht seinen Anfang genommen, und die mitwirkenden Künstler befanden sich noch in einem neben dem Saale gelegenen Zimmer, das bei solchen Gelegenheiten als Versammlungsort diente, und zu dem nur einige besonders Begünstigte aus dem Publicum Zutritt hatten. Um so mehr fiel daher die Gegenwart eines jungen Mannes auf, der weder zu diesen Begünstigten, noch zu den Künstlern selbst gehörte und sich auch von Beiden fern hielt. Er war vor Kurzem eingetreten und hatte sich sofort an den Capellmeister gewandt, der ihn zwar auch nicht zu kennen schien, aber doch von seinem Kommen unterrichtet sein mußte, denn er empfing ihn äußerst artig. Die umstehenden Herren vernahmen nur so viel von dem Gespräche, daß der Capellmeister bedauerte, Herrn Almbach keine Auskunft geben zu können, es sei der Wunsch Signora Biancona’s gewesen; Signora werde sogleich selbst erscheinen. Die kurze Unterhaltung war bald zu Ende, und Reinhold zog sich zurück.
Der in lebhafter Unterhaltung begriffene Künstlerkreis stob urplötzlich auseinander, als die Thür sich öffnete, und die junge Primadonna erschien, die man noch nicht erwartet hatte, denn sie pflegte sonst stets erst im letzten Augenblicke vorzufahren. Alles kam in Bewegung. Man überbot sich in Aufmerksamkeiten gegen die schöne Collegin, aber diese nahm heute auffallend wenig Notiz von der gewohnten Huldigung ihrer Umgebung. Ihr Blick war schon beim Eintreten rasch durch das Zimmer geflogen und hatte sofort gefunden, was er suchte. Signora geruhte, die Begrüßungen nur sehr flüchtig zu erwidern, wechselte einige Worte mit dem Capellmeister und entzog sich dann sofort jeden weiteren Unterhaltungsversuchen