Patricia Vandenberg

Dr. Norden Bestseller Staffel 3 – Arztroman


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Martinas Leiden seelische Ursachen hat?«, fragte sie.

      »Ja, es sind nicht nur die Mandeln schuld, obgleich die auch entfernt werden müssten.«

      »Ich dachte, dass sie noch so jung gewesen wäre, um schneller zu vergessen«, flüsterte Claudia. »Sie war ein so fröhliches, lebensbejahendes Kind. Ein richtiger Sonnenschein.« Sie machte eine kleine Pause. »Ich dachte wirklich, dass die Pockenimpfung an allem schuld ist. Ich meine«, wieder geriet sie ins Stocken, »diesen Hautausschlag. Er belastet ein junges Mädchen doch sehr. Damals wurde sie sehr krank.«

      »Nach der Impfung?«, fragte Dr. Leitner.

      »Ja. Es war, als würde sie tatsächlich pockenkrank. Wir mussten sie in die Klinik bringen. Meine – unsere Eltern waren im Umzug begriffen. Sie hatten ein Haus gekauft. Die Heizung funktionierte nicht richtig. Martina bekam hohes Fieber, als sie eine Woche dort wohnten.«

      Claudia legte ihre schmalen schönen Hände vor das Gesicht, das nun wie erstarrt wirkte.

      »Es war zu schrecklich«, sagte sie mit bebender Stimme. »Auf der Baustelle wurde eine Gasleitung beschädigt. Das Haus meiner Eltern flog in die Luft. Sie kamen beide ums Leben.«

      Sie kämpfte verzweifelt gegen die Tränen an, die dann aber doch über ihre Wangen rollten.

      Spontan sprang Georg Leitner auf und ging schnell auf sie zu. Behutsam legte er die Hände auf ihre Schultern. Erschüttert und doch voller Wärme war seine Stimme, als er sagte: »Weinen Sie, Claudia, weinen Sie sich endlich alles von der Seele. Dann können Sie auch Martina helfen.«

      Ganz unbewusst streichelte er dann ihr Haar, als sich das lautlose Schluchzen in leises Weinen löste. Seine rechte Hand legte sich an ihre Wange und drückte ihren Kopf an seine Brust. Er wollte nur trösten, und doch ergriff ein unbekanntes Gefühl von ihm Besitz, eine heiße, nie empfundene Zärtlichkeit. Er hatte schon manche Frau tröstend in den Armen gehalten. Eigentlich hatte er immer nur getröstet, wenn er auch manchmal geglaubt hatte, Liebe zu empfinden. Aber die große Liebe hatte er doch noch nicht kennengelernt, weil ihm immer nur Frauen nahestanden, die mit ihren eigenen Problemen nicht fertig wurden.

      Jetzt dachte er gar nichts. Er fühlte nur, dass Claudia mit unendlicher Tapferkeit bemüht gewesen war, ihr Leid zu verbergen.

      Er konnte geduldig warten, bis sie wieder sprach. Sie hatte ihre Tränen mit seinem Taschentuch getrocknet und ihr Gesicht abgewendet.

      »Ich wollte dann nicht, dass Martina es erfährt«, sagte Claudia heiser, »aber sie lag nicht allein im Zimmer und bekam eine Zeitung in die Hände. Als ich es ihr dann erklären wollte, sah sie mich nur starr an. ›Es ist nicht wahr. Es kann nicht wahr sein‹, sagte sie. ›Mutti und Vati haben doch so lange für ein Haus gespart und sich so darauf gefreut.‹ – Ich habe mir später bittere Vorwürfe gemacht, dass ich sie in das Internat brachte, aber ich musste ja Geld verdienen. Die Versicherungen haben es nicht eilig.«

      »Ja, ich weiß«, sagte Georg Leitner.

      »Aber ich konnte nicht ahnen, dass es so schlimm für Tina ist«, schluchzte Claudia auf. »Ich meine jetzt, dass wir dann auch nicht mehr zusammen waren. Ich lebte ja schon länger nicht mehr bei meinen Eltern. Wir sahen uns nur einmal im Monat. Sie war das verwöhnte Nesthäkchen. – Sie dürfen jetzt nicht denken, dass ich es ihr neidete. Ich habe sie immer lieb gehabt, ich wusste nur nicht, dass sie mich auch so lieb hat. Sie hatte ja Mutti und Vati.«

      »Und für Sie war alles zu viel«, sagte Dr. Leitner. »Sie waren zu jung und hätten selbst einer Stütze bedurft. Gab es niemanden in der Familie, der hätte einspringen können?«

      »Unsere Familie bestand nur aus uns«, flüsterte Claudia. »Vati hatte noch einen Bruder, aber er lebt mit seiner Familie im Ausland. Er schickte fünfzig Euro für einen Kranz und eine vorgedruckte Karte. Dann haben wir nie mehr etwas von ihm gehört. Wir kannten ihn auch gar nicht. Die Versicherung hat inzwischen bezahlt. Martina bekommt eine Rente. Sie ist halbwegs gesichert. Aber sie muss doch gesund werden. Bitte, bitte, helfen Sie ihr, Herr Doktor. Ich möchte so gern alles tun, dass sie wieder so wird wie früher. Sagen Sie es bitte Dr. Behnisch.«

      »Deshalb brauchen Sie sich keine Gedanken zu machen, Claudia. Nun weiß ich schon mehr, und wenn Sie mir Vertrauen schenken, werden noch manche seelischen Konflikte gelöst werden können. Ein heranwachsender junger Mensch zu Beginn der Pubertät ist in den meisten Fällen besonders empfindsam. Es gibt einige Raubeine, die mit allem fertig werden, aber zu denen gehörte ich auch nicht und Sie wohl ebenfalls nicht. Ich habe meinen Vater früh verloren und lebte lange mit meiner Mutter allein. Das hat sich auch nicht nur positiv für mich ausgewirkt, obgleich ich meine Mutter sehr liebe. Das aber habe ich erst begriffen, seit jeder sein eigenes Leben lebt. Ich fühlte mich eingeengt. Mütter können sehr besitzergreifend sein, ohne es zu spüren. Aber was rede ich von mir. Wir wollen, dass Martina gesund wird.«

      »Werden Sie eines Tages auch etwas mehr von sich erzählen, Dr. Leitner?«, fragte Claudia leise. »Sie haben mir so sehr geholfen.« Sie schöpfte tief Atem. »Oder finden Sie es vermessen, dass ich mir wünsche, mehr von Ihnen zu wissen?«

      »Nein, durchaus nicht. Vertrauen gegen Vertrauen, Schwester Claudia. Ich hoffe, dass wir noch sehr lange hier beisammen bleiben, und wenn ich Ihnen irgendwie behilflich sein kann, ganz gleich in welcher Beziehung, können Sie jederzeit zu mir kommen.«

      »Ganz gleich in welcher Beziehung?«, fragte sie nachdenklich. Dann aber entspannte sich ihr Gesicht. »Sie wissen jetzt schon recht viel von mir, und ich habe sehr viel Vertrauen zu Ihnen. An sich ist es aber gar nicht üblich, dass der Chefarzt einer schlichen Krankenschwester so viel Zeit opfert.«

      »Das war nun gewiss kein Opfer«, sagte Dr. Leitner. »Übrigens werden wir das Zimmer für Frau Dr. Norden bereithalten müssen. Morgen ist zwar erst Samstag, aber es könnte immerhin möglich sein, dass das zweite Baby doch schon etwas früher dahergeschneit kommt. Meiner Berechnung nach soll es ja ein Sonntagskind werden.«

      »Dann wird es auch ein Sonntagskind«, sagte Claudia. »Und schneien wird es doch wohl hoffentlich nicht auch noch nach diesem Sturm. Wir sind doch schon mitten im Frühling.«

      »Sie schon«, sagte er mit einem flüchtigen Lächeln. »Wettermäßig sieht es nicht so aus. Kopf hoch, Claudia.«

      Zum ersten Mal ließ er »Schwester« weg, aber es war nicht so, dass Claudia dies als Vertraulichkeit betrachtete. Es müsste schön sein, einen Bruder wie ihn zu haben, dachte sie, oder wenigstens solch einen Freund. Und ganz plötzlich durchflutete sie ein Glücksgefühl, weil es ihr bewusst wurde, dass er schon ein Freund für sie geworden war.

      »Danke«, flüsterte sie. »Dank für alles.«

      Und dann eilte sie rasch hinaus, weil ihre Augen wieder feucht wurden.

      Dr. Leitner nahm sich dann noch Zeit, mit Dieter Behnisch zu telefonieren, bevor er wieder seinen Pflichten nachging.

      Nun waren sie doch schon einen Schritt weitergekommen, wenn damit auch Martina noch nicht viel geholfen war. Mit aller Behutsamkeit musste dieses Mädchen behandelt werden, und die Freunde waren sich einig, dass eine chirurgische Klinik dafür nicht der richtige Platz war, wenn erst einmal die Mandeln entfernt waren. Aber schließlich wussten sie ein Fleckchen Erde, wo schon so mancher Verzweifelte und Hoffnungslose Genesung gefunden hatte. Die Insel der Hoffnung! Das Sanatorium, das von Fee Nordens Vater Dr. Johnnes Cornelius geleitet wurde. Es fragte sich jetzt nur, wie Martina sich dazu stellen würde, denn es würde wieder eine räumliche Trennung von ihrer Schwester Claudia bedeuten, die jetzt wenigstens ein paar Stunden täglich bei ihr sein konnte.

      Man wollte sich darüber noch eingehend besprechen. An diesem Tage war nicht nur das Wetter stürmisch, sondern auch der Tagesablauf in der Behnisch-Klinik, ebenso wie für Dr. Norden und Dr. Leitner.

      Daniel hatte seine junge Frau von unterwegs angerufen, damit Fee sich keine Sorgen um ihn machte. Er sagte ihr allerdings nicht, was passiert war, denn so kurz vor der Geburt ihres zweiten Kindes sollte Fee durch nichts aufgeregt werden.

      Ihr ginge es gut, er brauche sich um sie nicht zu sorgen, sagte Fee zuversichtlichen Tones. Danny