Daphne Niko

DAS RÄTSEL SALOMONS


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das Prasseln der Flammen hinweg Gehör zu verschaffen, blieb unbeantwortet.

      Von allen Seiten bedrängte sie Rauch, so dicht und stark, dass es sich anfühlte, als atme sie unter Wasser. Sie löste ihr Bandana von ihrem Handgelenk und benutzte es, um Mund und Nase zu bedecken, aber die tückischen Schwaden drangen dennoch in ihre Lunge. Ein heftiger Hustenanfall schüttelte sie und alles um sie herum wurde undeutlich und surreal, wie Bilder aus einem Traum. Sie lief in die entgegengesetzte Richtung und suchte in der schwarzen Rauchwand weiter nach Daniel.

      Als ein Pferd in vollem Tempo vor sie galoppierte, stolperte sie und stürzte auf die Seite. Beim Aufsehen erblickte sie das Hinterteil ihrer grauen Stute und einen Flecken schwarzen Stoffs, der hinter dem Reiter durch die Luft peitschte.

      Sie waren zurückgekehrt.

      Sarah folgte dem Weg des Reiters mit ihrem Blick und sah, wie er vor dem Labor abstieg. Keuchend fügte sie das gedankliche Puzzle zusammen. Sie haben das Feuer gelegt. Sie haben ein Ablenkungsmanöver geschaffen.

      Sie sind hinter der Schriftrolle her.

      Sarah sprang auf die Füße und rannte aufs Labor zu.

      Der Reiter der Al Murra nahm sein Gewehr von seinem Rücken, hob es an die Schulter und zielte auf das Schloss. Ein Schuss krachte, dann ein weiterer.

      Als Sarah sich ihm von hinten näherte, konnte sie erkennen, dass das Schloss beschädigt war. Ihr blieben nur Sekunden zum Handeln.

      Der schwarzgewandete Fremde zog am übel zugerichteten Türgriff, doch dieser wollte nicht nachgeben. Der Mann legte die Waffe nieder, um beide Hände benutzen zu können. Die Tür öffnete sich einen Spalt breit.

      Sein Fehlurteil war ihre Gelegenheit. Wie eine Löwin ihr Revier verteidigt, so stürzte sie sich auf ihn und brachte ihn aus dem Gleichgewicht. Als sie zu Boden fielen, zerriss sie seinen schwarzen Redan von der Schulter bis zur Hüfte. Darunter kam eine graue Thobe zum Vorschein. Ein in einer silbernen Scheide steckender, gebogener Dolch – ein beduinischer Khanjar – war an seiner Taille befestigt.

      Sein Kopf schnellte zu ihr herum. Seine onyxschwarzen Augen funkelten. Seine Haut hatte die Farbe von Karamell. Um seinen Kopf war ein enger Turban gebunden. Eine Flut von Obszönitäten in Arabisch ausstoßend griff er nach ihr.

      Dass sie zu schnell und athletisch für ihn war, fachte seinen Zorn noch an.

      Er sah sich nach seiner Waffe um, die wenige Meter entfernt lag.

      Sarah hörte das Heulen einer Sirene und als sie sich umdrehte, sah sie eine sich nähernde Kolonne rotblinkender Lichter. Eine Welle der Erleichterung durchfuhr sie.

      Der Reiter mühte sich auf, griff sein Gewehr und bestieg sein Pferd. Mit einem Schuss in den Himmel trieb er das Pferd zum Galopp und ritt in Richtung Wüste davon. Zwei weitere Reiter folgten ihm.

      Sarah stand mit zittrigen Beinen auf. Sie war außer Atem und ihr Mund war trocken.

      Dann sah sie ihn.

      In Ruß gehüllt und erschöpft erschien Daniel aus einer Rauchwolke, aus der er einen bewusstlosen Mann in Sicherheit trug. Abdullah.

      Sie beschwor das letzte bisschen Energie, das sie noch besaß, und eilte an Daniels Seite. Sie nahm Abdullahs schwere, reglose Füße auf. Gemeinsam eilten sie vom grimmigen Inferno weg. Sie legten Abdullah vor einem der Rettungswagen, die gerade eingetroffen waren, auf den Boden.

      Mit fahlem und gequältem Gesicht taumelte Daniel fort. Er kam ein paar Meter weit, bevor er auf die Knie fiel.

      Allen gesellschaftlichen Konventionen zum Trotz kniete sich Sarah neben ihn und legte ihm den Arm um die Schultern. »Du brauchst Hilfe.«

      »Es ist meine Schuld, Sarah.«

      Sie hatte ihn noch nie so aufgelöst gesehen.

      »Ich hätte es vorhersehen müssen.«

      Ihre Augen füllten sich mit Tränen, während sie ihn hielt. Sie wusste nicht, was sie sagen könnte, um seine Qual zu lindern. Sie atmete den Gestank von Rauch und verkohlter Erde ein, während die Feuerwehrmänner sich daran machten, die Flammen zu löschen. Eine wohlbekannte Furcht durchfuhr sie, als sie darüber nachdachte, warum man sie so brutal angegriffen hatte.

      Als die Flammen sich dem Ansturm des tosendes Wassers ergaben und sich aufzulösen begannen, erhielt sie einen Teil der Antwort. Fast wie in Trance stand sie auf und betrachtete die Worte, die in den Sand gebrannt waren.

      »Danny«, sagte sie, unfähig, ihre Augen von diesem Anblick abzuwenden.

      Er stellte sich neben sie. »Großer Gott«, flüsterte er.

      Die Nachricht, auf arabisch verfasst, war wie ein Fehdehandschuh hingelegt worden, Verkündung und Warnung zugleich.

      Die Streitmacht erhebt sich. Niemand kann den Richtspruch verhindern.

      Kapitel 5

      Die Tempelplattformen an den Ufern des Ganges waren von Kerzenreihen umgeben, deren Flammen zitterten, als der erste Atem des Herbstes über das Wasser wisperte. Die Flutlichter oberhalb der Plattformen spiegelten sich auf dem tiefschwarzen Ganges wie Ströme geschmolzenen Goldes. Weihrauch kräuselte sich zum Himmel und hinterließ den Duft von Sandelholz und Tempelbaum in der dunstigen Abendluft. Niedrige, in orangefarbenen, goldrandbestickten Satin gehüllte Tische hielten Ritualgegenstände bereit, welche die Zeremonie, die in Kürze von tausenden Gläubigen durchgeführt werden würde, erahnen ließen.

      Trent Sacks saß allein in einem hölzernen Ruderboot, auf dem das Wort Gangaram in Hindi über seiner abblätternden blauen Farbe geschrieben stand. Seit er in die heilige indische Stadt gekommen war, hatte er es sich zur Gewohnheit gemacht, das abendliche Puja zu beobachten, ein von hinduistischen Priestern durchgeführtes Tempelritual, das eine Opfergabe an ihre Götter darstellte.

      Er war kein Hindu. Als Brite jüdischer Abstammung glaubte er an einen Gott. Ziel seiner Reise nach Varanasi war weder Anbetung noch spirituelle Reinigung, wie das für die Millionen Hindus der Fall war, die die Pilgerreise in die dreitausend Jahre alte Stadt unternahmen, um im heiligen Ganges geläutert zu werden, oder um ihre letzten Tage hier zu verbringen, sodass sie in einem der brennenden Ghats eingeäschert werden konnten. Für viele fromme Hindus bedeutete es das ultimative Ende, hier zu sterben, denn es hieß, dass die Scheiterhaufen Varanasis sie von allen weltlichen Sünden freisprechen und sie aus dem leidigen Kreislauf der Reinkarnation entlassen konnten.

      Sacks war nicht hier, um unter den Lebenden zu weilen, sondern vielmehr unter den Toten.

      Ein Priester in einem weißen Sarong und ochsenblutrotem T-Shirt, mit einer goldenen, um die Taille und über die Brust geschlungene Schärpe, blies in eine Shankh-ähnliche Tonmuschel, und ihr schwermütiges Wehklagen erweckte den Puja zum Leben.

      Sacks schloss die Augen und erlaubte dem trauervollen Echo des Instruments, in seinem Inneren nachzuhallen. Seine Miene war gleichmütig, als er sich dazu brachte, sich auf die Schönheit der Zeremonie zu konzentrieren, die sich vor ihm entfaltete, doch die Gedanken an die Ereignisse, die er tausende von Meilen weit weg in Gang gebracht hatte, bahnten sich ihren Weg in sein Bewusstsein.

      Der Anflug eines Lächelns legte sich auf seine gespitzten Lippen, als er über die Arbeit nachdachte, die in diesem Augenblick von seinen Botschaftern verrichtet wurde. Er blickte auf seine Edelstahl-Rolex. Es war kurz nach acht Uhr abends.

      Bald, dachte er. Sehr bald.

      Er benetzte seine Lippen. Eine steife Brise wehte über das Wasser. Er schlug die Kapuze seiner Windjacke hoch und ließ seine Hand über die Seite seines Halses gleiten und den Kopf seines Schlangentattoos streicheln. Die mythische Kreatur mit schieferbraunen Schuppen und smaragdgrünen Augen war um seinen haarlosen Oberkörper gewunden. Ihr Schwanz ruhte über seinem Steißbein und ihr Kopf dominierte seinen Nacken und spähte um die Seite herum, als ob sie ihm ins Ohr zischte.

      Die sieben identisch gewandeten Pujari saßen im Lotussitz auf den Plattformen vor Dashashwamedh Ghat und schwangen