Daphne Niko

DAS RÄTSEL SALOMONS


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Töne beschworen den Himmel. Die Pujari blickten zum Ganges und richteten ihre Anbetung an die Göttin des Flusses, nicht zu den tausenden undeutlichen Gesichtern, die die abgestuften Steinterrassen hinter den Plattformen bevölkerten oder sich aus den Fenstern der überladenen Stadtgebäude ergossen.

      Mit Bewegungen, so gleichmäßig und flüssig wie der Reim eines Gedichtes, erhoben sich die Priester und nahmen Diya-Lampen aus Messing auf, die mit brennender Weihrauchkohle gefüllt waren. Das Läuten der Glocken dauerte fort und wurde jetzt von Trommeln, so beständig wie ein Herzschlag, und einem leisen monotonen Gesang begleitet. Die Pujari spiegelten einander wider, während sie die Lampen wie langsam schwingende Pendel bewegten. Große Rauchwolken stiegen auf und leuchteten kupfern im goldenen Licht. Die Gläubigen neigten ihre Köpfe, als der Rauch auf sie zu wehte und sie mit dem süßen Duft von Sandelholz salbte.

      Sacks wandte seinen Blick flussabwärts. Eine Kuh trieb vorbei, mit offenen Augen und vom Tod aufgebläht; er betrachtete sie mit Gleichgültigkeit. In der Ferne erhob sich eine Rauchwolke vom Marnikarnika Ghat und Erregung rührte sich in ihm. Eine weitere Einäscherung, eine weitere Seele, die in den Äther entlassen wurde. Hunderte Male am Tag wurden Scheiterhaufen entzündet, vom frühen Morgen bis spät in die Nacht. In einem Land, dessen Bevölkerung eine Milliarde überschritt, gab es keine mangelnde Nachfrage für die Dienste der brennenden Ghats oder für die Erlösung vom Leid.

      Die Nutzbarmachung zum Himmel fahrender Seelen war der exakte Grund für seine Anwesenheit. Dies und das Chaos Varanasis – die Straßen, die von unbändigen Massen an Fahrzeugen und Ochsenkarren und Fahrradrikschas wimmelten, die Tiere, die ungehindert durch die Straßen und Gassen liefen, die allgegenwärtigen Straßenmusiker, die für eine Handvoll Rupien auf ihren Dotaras zupften, die abgemagerten Sadhus mit Dreadlocks und geweißten Gesichtern, die Scharen von Pilgern, die ihre Riten am Fluss durchführten.

      In diesem Chaos konnte er anonym bleiben, seine Arbeit nicht hinterfragt. Er konnte sich in sein Versteck zurückziehen, tief im Inneren eines alten Gebäudes in einer namenlosen Gasse, und seine eigenen Rituale durchführen, konnte auf seiner Suche nach Antworten auf uralte Rätsel frisch geläuterte Seelen einberufen. Bald würde er seine Lebensaufgabe verwirklichen und die ganze Welt – eine in Leiden und Sündhaftigkeit versunkene Welt – würde seinen Namen kennen.

      Messias.

      Er war nun so nah. So nah, dass er die Krone des geweihten Königs fühlen konnte.

      Frauen, deren Köpfe von Saris in Farben so leuchtend wie Juwelen verhüllt waren, entließen kleine Schalen mit Blütenblättern und Teelichtern auf die bebenden Wasser des Ganges. Der Fluss nahm ihre Gabe an und lud die wertvolle Fracht aus Wünschen und Gebeten in sein dunkles Herz ein. Der Singsang wurde lauter, während die Pujari messingfarbene Feuerlampen schwangen, aus denen sich sieben Reihen von Flammen ergossen, die Streifen weißen Lichts und feinen Rauchdunst auf ihrem Weg hinterließen.

      Sacks Mobiltelefon vibrierte in seiner Tasche. Ein Lächeln huschte über seine Lippen. Er holte das Telefon heraus und las die Nachricht.

      Es ist vollbracht.

      Voller Freude lehnte er sich zurück und nahm die Sinfonie der Geräusche in sich auf, als der nächtliche Puja seinen Höhepunkt erreichte. Das stete Trommeln wurde wilder und die Glocken erklangen mit neuer Dringlichkeit. Der Gesang wurde lauter und schneller.

      Mit langsamen, fließenden Bewegungen, die scheinbar von der ringsumher tobenden Liturgie losgelöst waren, warfen die Priester, starr wie Säulen und von göttlicher Klarheit durchdrungen, Ringelblumen ins Wasser. Sie legten ihre Handflächen aneinander und verneigten sich vor dem Fluss, und der pulsierende Rhythmus fand ein abruptes Ende.

      Eine plötzliche und vollständige Stille erhob sich über der alten Stadt. Sacks entließ seine eigene Wunschkerze auf die schwach atmende Membran des Ganges. Die flackernde Flamme trieb langsam davon wie eine auf die ewige Dunkelheit zumarschierende Seele.

      Kapitel 6

      Zwei Tage nach dem Feuer kehrte Daniel gegen den Willen der Ärzte, die ihn wegen Rauchvergiftung behandelt hatten, zur Ausgrabung zurück. Er konnte nicht wegbleiben. Er musste den Schaden begutachten und herausfinden, wann und wie ein Wiederaufbau stattfinden konnte. Und er brauchte Antworten.

      Obwohl der Polizeibericht auf sich warten ließ, zweifelte Daniel nicht daran, dass es sich um Brandstiftung handelte. Die Täter hatten das Innere des Transferbusses mit Benzin übergossen und noch mehr auf dem Boden zwischen dem Bus und der Krankenstation verteilt. Damit hatten sie sichergestellt, dass sich die Flammen schnell verbreiten und die größtmögliche Zerstörung in kürzester Zeit anrichten würden. Daniel war sich wegen des Benzingestanks jener Nacht sicher: Sein olfaktorisches Gedächtnis hatte ihn sich eingeprägt. Die Brandlinie war ein weiteres verräterisches Zeichen. Das Feuer hatte seine lodernden Finger in einem einzelnen Bogen nach der Krankenstation ausgestreckt; offensichtlich war es dorthin geführt worden.

      Daniel hatte die Al Murra vom Inferno wegreiten sehen. Eindeutig hatten sie von der Schriftrolle gehört und versucht, sie wieder in ihren Besitz zu bringen, oder sie hatten ihm und Sarah doch zumindest eine Warnung zukommen lassen wollen. Aber wer hatte ihnen davon verraten – und warum? Dies waren Antworten, welche zu finden er entschlossen war, und er schwor sich, das um jeden Preis zu tun.

      Er parkte den Land Rover und lief zum Buswrack. Seine Lunge waren noch immer vom Rauch angegriffen, und nach nur wenigen Schritten verspürte er eine Enge in der Brust. Er ignorierte den Druck und ging weiter.

      Obwohl er ungefähr wusste, was er zu erwarten hatte, erschütterte ihn der Anblick des verkohlten Busses. Der gesamte obere Teil war ein hohler Käfig deformierten Metalls. Die ganze graue Farbe war in der Feuersbrunst geschmolzen und hatte blanken, flammengeschwärzten Stahl hinterlassen. Die Scheiben waren weggefegt worden; allein gezackte Glaszähne, die sich an die Fensterrahmen klammerten, waren übrig. Die Scherben knirschten unter Daniels Füßen, als er sich zur Tür bewegte, die nur noch an einer Angel hing, und von dort ins Fahrerhaus. Der in der Luft hängende Gestank nach Benzin und der chemische Geruch der Aschehaufen aus dem Vinyl und Fieberglas der Sitzpolster überwältigten ihn.

      Er hielt sich an der Haltestange im Fahrerhaus fest und griff sich nach Atem ringend an die Brust. Das Gefühl versetzte ihn wieder in den Emotionsstrudel der Feuernacht. Er hörte die wilden Schreie seiner Mannschaftsmitglieder, die sich aus dem Griff der Feuersbrunst kämpften, sah den Ausdruck erstarrter Panik auf ihren dunklen Gesichtern vor sich.

      Die meisten waren mit leichten Verletzungen und Rauchvergiftungen davongekommen. Wenige waren mit Verbrennungen dritten Grades ins Krankenhaus gekommen. Zwei aber hatten es nicht geschafft. Mustafa und Azhar, Brüder aus einem nahegelegenen Dorf, die vor Kurzem als Feldtechniker zur Grabung gestoßen waren, hatten sich gegen das wilde Rennen um ihr Leben entschieden. Sie hatten sich nach Osten gerichtet und sich zum Gebet verneigt, während die weißglühenden Flammen um sie herum gelodert hatten.

      Daniel hatte ihnen zugerufen, sich in Sicherheit zu bringen. Als sie sich geweigert hatten, sich zu rühren, war er auf sie zu gerannt, doch er war zu spät gewesen. In Slow-Motion hatte sich die Szene vor seinen Augen abgespielt: Die glühenden Flammenfinger hatten an den Brüdern gezerrt, bis sie vollkommen eingeschlossen waren. Über das Brüllen des Infernos hinweg hatte Daniel nicht einmal seine eigenen Schreie hören können; entsetzt und machtlos hatte er zugesehen. Die beiden waren in tiefer Verbeugung reglos am Boden geblieben, als der Höllenschlund der Bestie sie verschlang.

      In Daniels Kehle bildete sich ein Knoten, während sein Verstand bei der Erinnerung verweilte. Er verstand die Sicherheit seiner Crew als persönliche Verantwortung, aber er hatte seine Männer im Stich gelassen. Und obwohl Mustafa und Azhar ihr eigenes Schicksal gewählt hatten, wäre das nie passiert, wenn es gar kein Feuer gegeben hätte. Er war nicht wachsam genug gewesen; er hatte den Brandstifter nicht rechtzeitig gesehen. Er war unachtsam geworden, und das war unverzeihlich.

      Daniel verließ den Bus und ging an der Asche der Krankenstation vorbei. Das Blechdach lag als unkenntlicher Haufen am Boden, und was von den Wänden übrig war, war verkohlt und stank nach Rauch. Er sah sich nach den angrenzenden Gebäuden