Gewicht an den Kopf eines Mannes erinnerte. Da hineingraviert war der göttliche Kreis, symbolisch für alle Schöpfung, und in dessen Mitte stand der höchst geweihte und unaussprechliche Name Yahwehs.
Die Stimme des Priesters zerriss den Schleier der Stille, der über dem Obstgarten hing. »Oh David, mächtiger und gerechter Herrscher und Vater König Salomons, ich rufe dich beim Namen, der nicht ausgesprochen werden darf und der Furcht in den Herzen der Gottlosen sät. Ich beschwöre deine Anwesenheit durch die zwei Schrifttafeln, auf welchen der ehrwürdige Schwur unseres Volkes geschrieben steht, und durch das heilige Tabernakel, in welchem der Allmächtige wohnt, und durch das Allerheiligste, in welches nur der Hohepriester einzutreten vermag. Zeige dich, oh David, und führe deinen Nachfolger, sodass er sich dem Vermächtnis, das ihm gegeben ward, würdig erweisen möge.«
Die Stille war vollkommen. Zadok nahm eine Handvoll Erde vom Boden auf. Er streckte sie dem Firmament entgegen, und während er sich rechtsherum drehte, streute er ein wenig der Erde in jede Himmelsrichtung, bis sie ganz verteilt war. Dann fiel er auf die Knie. Mit in die Luft erhobenen Händen und zurückgeworfenem Kopf sagte er: »Nachsichtiger und sanftester Geist Davids, ich bitte dich, komme in Frieden. Im höchst geheiligten Namen des Einen, der im Himmel wohnt, der allwaltende Macht besitzt über Kreaturen groß und klein, der das Volk Israels zu Überbringern und Zeugen seines Wortes auserkoren hat, und der die göttliche Gewalt innehat über die Seelen der Menschen, lebend und tot, rufe ich dich, oh David. Tritt hervor und enthülle die Geheimnisse der Engel, die zu dir gesprochen haben, sodass der Wille des Herrn geschehen möge.«
Ein leichter Wind flüsterte durch die Obstbäume und ließ die Blätter für einen Moment – kaum länger als der Herzschlag eines Menschen – erzittern. Salomon entging das Zeichen nicht. Er spürte die Anwesenheit seines Vaters, pur und gestaltlos wie der Chamsin, so deutlich wie er das An- und Abschwellen seines eigenen Atems spüren konnte. Er sog die wohlriechenden Dämpfe ein, die aus dem Räucherkelch aufstiegen, bis sein Kopf ganz leicht wurde, sein Verstand offen und gefügig. Heute Nacht hatte er nur ein einziges Anliegen: den Schlüssel zum Bau des heiligen Tempels auf dem Berg Moriah zu erhalten. Diese monumentale Aufgabe war allein ihm anvertraut worden.
»Mein Sohn, alles, was ich während meines Lebens auf dieser Erde getan habe – jede Schlacht, die ich gewagt, jeden Sieg, den ich errungen, jedes Gebäude, das ich errichtet habe –, geschah in Vorbereitung auf die eine wahre Aufgabe, die da lautet, einen Tempel für den Herrn, unseren Gott, zu bauen, der das alte Zeltheiligtum, welches unser Volk lange auf seiner Reise begleitete, ersetzen wird, um die Dauerhaftigkeit unseres Volkes in diesem Land zu begründen«, hatte sein Vater ihm gesagt. »Viele Jahre lang glaubte ich, diese Aufgabe sei meine Bestimmung. Doch der Herr erschien mir in einem Traum und sagte: David, baue du nicht mein Haus, denn großes Blutvergießen kennzeichnet deine Herrschaft. Einer deiner Söhne soll König werden, und zu seiner Zeit wird Israel den Frieden erleben. Er allein wird würdig sein, eine solch glanzvolle Aufgabe zu erfüllen. Es ist vorherbestimmt, mein Sohn. Du bist es, der diesen Tempel bauen wird.«
Salomon hatte dabei zugesehen, wie König David, der um die Jugend und Unerfahrenheit seines Sohnes wusste, Vorbereitungen für die Umsetzung dieser göttlichen Verfügung traf. In den letzten Tagen seines Lebens hatte der alte König seinen Steinmetzen befohlen, Steine für Bauzwecke zu schneiden, verfügt, dass Zedernholz aus den Ländern im Norden herbeigebracht wurde, und große Mengen an Gold, Kupfer, Eisen und Bronze angehäuft.
Als sein Vater im Sterben lag, erhielt Salomon das wertvollste aller Geschenke: Eine Sammlung von Pergamenten, auf denen die Baupläne des Tempelkomplexes verzeichnet waren, welche David von den vom Himmel herabgestiegenen Engeln offenbart worden waren. Die Pläne zeigten das Vestibül und die inneren Kammern, die Höfe und Schatzlager, die Räume für Priester und Leviten, die zur Durchführung der heiligen Riten benötigten Gefäße und Altare, die Säulen namens Boas und Jachin, das beeindruckende Bronzebecken, und das Allerheiligste, das die Bundeslade beheimaten sollte.
Doch zum Unmut des jungen Salomon enthüllte David nicht alles. Da der alte König gefürchtet hatte, dass die Pläne in die Hände der Unwissenden fallen könnten, gab er die Abmessungen für jede Kammer in einer mysteriösen Maßeinheit an und sagte, die Engel hätten ihn instruiert, die Wahrheit vor Salomon verborgen zu halten bis es an der Zeit sei, die Vision zu realisieren. Und so hatte er das Wissen mit in sein Grab genommen. In den frühen Tagen seiner Herrschaft hatte Salomon die Pläne jeden Tag und jede Nacht studiert, in seiner jugendlichen Arroganz davon überzeugt, dass er sie letztlich verstehen würde. Doch dies geschah nicht.
Dann, eines Nachts, als die Flamme seiner Kerze in einem See aus Wachs erstickte, schloss er die Augen und hörte eine Stimme in seinem Kopf donnern.
»Einen Wunsch will ich dir gewähren. Was ist es, das du mehr als alles andere begehrst?«
Salomon fiel auf die Knie und neigte seine Stirn zur Erde. Kaum hatte er das getan, spürte er, wie eine Macht ihn aufrichtete.
»Stehe als König vor mir. Welches ist dein Wunsch?«
Obwohl niemand mit Salomon in seiner Kammer war, verstand er in diesem Augenblick, dass er niemals allein sein würde. Er würde stets geführt werden. So stand es geschrieben.
»Gewähre mir Weisheit, oh Herr«, flüsterte er.
In jener Nacht änderte sich alles. Der junge König strotzte nicht länger vor Ungeduld. Er rollte die Pergamente auf und legte sie in eine Alabastertruhe in seinem Privatgemach.
Die Truhe blieb drei Jahre lang versiegelt.
Jetzt war Salomons Zeit gekommen. Das wusste er so sicher, wie er wusste, dass die Sonne im Osten aufgehen würde. Doch er brauchte seinen Vater ein letztes Mal.
Zadok bedeutet seinem König mit einem Nicken, dass die Seele unter ihnen weilte. Er überreichte Salomon das einzige in ein rotes Seidentuch eingeschlagene Objekt und trat vom Altar zurück. Er hatte getan, was er konnte; alles Weitere oblag dem jungen König.
Langsam löste Salomon die schützende Hülle ab und erblickte ein Messer mit einem aus Widderhorn gefertigten Griff und einer sichelförmig geschwungenen Klinge. Er streckte es zum Himmel, und die Schneide glänzte im Mondlicht. Dann, ohne Emotion und ohne Zögern, führte er die Spitze zur Innenseite seines linken Unterarms und fügte seiner straffen, karamellfarbenen Haut einen diagonalen Schnitt zu. Weder das Brennen des Einstichs noch der pochende Schmerz, den er spürte, als der warme, dunkelrote Inhalt seiner Venen hervorquoll und seinen Unterarm hinabrann – über den knochigen Hügel seines Handgelenks hinweg und in das Tal seiner Handfläche hinein – ließen ihn zusammenzucken. Einige Augenblicke lang sammelte er das Blut in seiner Handfläche, dann leitete er es seinen Mittelfinger entlang und ließ es in eine aus reinweißem Marmor geschnitzten und zu geschmeidiger Glätte polierten Schale tropfen. Als sie voll war, trat er vom Altar zurück und goss das Blut in einem Kreis um sich herum auf die Erde.
»Oh, Geist meines Vaters, tritt hervor und erkenne dein eigen Blut.« Salomons tiefe Stimme drang durch den Obstgarten. »Betritt diesen Kreis, in den nur diejenigen vordringen können, welche dieselbe königliche Abstammung teilen, und enthülle die dir gewährten Geheimnisse der Engel, denn die Zeit ist angebrochen, den Namen des Herrn, unseres Gottes, durch die Errichtung eines Tempels auf dem heiligen Hügel zu ehren. Enthülle, oh erhabener Geist, den Schlüssel zum Schatz, der den Kindern Israels gehört, und hilf deinem demütigen Sohn, zu dem Werkzeug zu werden, zu dem der Herr ihn auserkoren hat.«
Reglos, wartend, stand Salomon im Inneren des Blutkreises. Er befand sich in einem Zustand tiefster Meditation. Sein Verstand war wie fruchtbare Erde, bereit, den Samen der Erleuchtung zu empfangen. Er widerstand dem Verlangen, Gedanken in die vollkommene Ruhe eindringen zu lassen, die ihn umgab.
Lange Zeit herrschte Stille. Er wusste, dass er geprüft wurde; er erwartete nichts Geringeres von seinem scharfsinnigen und weisen Vater. Erst wenn er die wilden Pferde des jugendlichen Verstandes zügeln und sie sich gefügig machen könnte, würde er als würdig erachtet werden. Dies war kein Leichtes für den König, der gerade an der Schwelle zum Mannesalter stand, und von dem so früh in seiner Herrschaft so viel erwartet wurde.
Salomon spürte Schwäche durch die