Daphne Niko

DAS RÄTSEL SALOMONS


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konnte – damals nicht, und auch nicht heute.

      Innerhalb der natürlichen Senke inmitten des Kalksteinmassivs war der Sand von steten Winden zu Wellen geweht worden. So symmetrisch und gleichmäßig auseinander liegend, dass kein Bauzeichner sie mit größerer Präzision hätte planen können, wogten diese Wellen über einen abgeflachten Teil der Wüste, dessen gehärtete Oberfläche mit einem Knirschen unter den Füßen nachgab. Als Sarah auf ihre Fußspuren zurückblickte, bedauerte sie es, einen Abdruck in der Perfektion der Natur hinterlassen zu haben.

      Aus dem Sand wuchsen vereinzelte Steppenläuferbüschel, die einzige Lebensform, die sich an das unfruchtbare Ödland klammerte. Eine Pflanze, von ihrer Wurzel getrennt, rollte über die goldene Fläche, als eine heiße Brise darüber wehte. Sarah konnte die leicht salzigen Sandkörnchen zwischen ihren Zähnen schmecken.

      Sobald sie ihre Forschungsstätte erreicht hatten, streifte Daniel seinen Rucksack ab und warf ihn auf den Boden. »Ich glaube, wir haben nicht viel Zeit. Sieht aus, als würde der Wind auffrischen.« Er deutete auf die Grube, die sie als Lagerstätte für ergrabene menschliche Knochenfragmente ausgehoben hatten. Den Großteil eines männlichen Arms hatten sie bereits rekonstruiert. »Ich kann mich um das hier kümmern, wenn du am Sattel arbeiten willst.«

      Ein paar Tage zuvor hatten sie einen hölzernen Knauf erspäht, nur wenig dunkler als die Wüste selbst, der etwa fünfzehn Meter von der Knochengrube entfernt aus dem Boden geragt hatte. Sie hatten genug Sand beseitigt, um die Rückseite eines Sattelbaums aus Akazienholz freizulegen, an dem noch immer ein Stück schwarzen Seils heftete.

      Als Daniel das ausgefranste Seilende untersucht hatte, war Sand herabgerieselt, wo er seinen Daumen über die Stränge gleiten ließ. Ziegenhaar, hatte er festgestellt. Es war ihr erster Hinweis darauf gewesen, dass die Karawane Jahrhunderte alt war. Seile aus Ziegenhaar, die zu weben außerordentlich viel Zeit beanspruchte, waren seit Generationen nicht mehr von den Wüstenbewohnern benutzt worden.

      Sarahs heutige Aufgabe war es, einen größeren Teil des grauen Webstoffes freizulegen, der am Sattelbaum angebracht war. Wie auch die Knochen war er so gut erhalten, als sei er gestern erst vergraben worden. Sie kniete sich vor das Objekt und zog Pinsel und Kelle aus ihrem Rucksack.

      Die Kamelwolle fühlte sich grob an. Die Fasern waren dick und die Bindung eng, als ob der Stoff ein Gewicht hatte tragen müssen. Einige rote Stickereien verzierten die graue Wolle. Die Farbe war intensiv und die Muster recht aufwendig, was Sarah zu der Annahme veranlasste, dass dies keine Karawane gewöhnlicher Nomaden gewesen war.

      Daniels Einschätzung nach war das Gewebe sabäisch. Als Experte für südarabische Völker hatte er den Stich als einen erkannt, der vor der christlichen Zeitrechnung und nur von sehr geübten Stickern angewendet wurde, vielleicht von Hofdamen. Sarah stellte seine Erkenntnis nicht infrage. Ohne Zweifel hatte der Stoff etwas Königliches.

      Ein Windstoß zischte durch die Passage. Sarah hielt ihren Turban fest und richtete den Blick nach unten, um sich dem Angriff der Sandkörner zu entziehen. Daniel hatte recht: Ihre Zeit war begrenzt.

      Sie bürstete den Sand schneller ab, bis sie fand, worauf sie gehofft hatte: Eine Klappe aus demselben Stoff, die auf eine Satteltasche hinwies. Die Wölbung darunter verriet ihr, dass sich die Fracht noch immer darin befand. Ihr Puls beschleunigte sich.

      Sie hielt das Walkie-Talkie an ihre Lippen und schaltete es ein. »Danny, das solltest du sehen.«

      »Unterwegs.« Seine Stimme am anderen Ende knisterte.

      Sie griff in die Satteltasche. Ihre Hand schloss sich um einen runden Gegenstand, dessen Oberfläche sich porös und schartig anfühlte. Sie zog ihn heraus und hielt ihn in ihrer Handfläche. Es war ein rotglasiertes Tongefäß, nicht größer als die Faust eines Mannes, mit winzigen, geschwungenen Henkeln und einem dünnen Hals, in welchem ein Pfropfen aus demselben Ton steckte. Sie drehte ihn langsam und bemerkte einen verblichenen Abdruck auf der irdenen Oberfläche.

      Daniel hockte sich neben sie. »Sieht aus, als wärst du auf eine Goldgrube gestoßen.«

      »Sieh dir das an.« Sie drehte ihm den Abdruck zu.

      Er nahm seine Sonnenbrille ab und betrachtete das Bild mit zusammengekniffenen Augen. »Geflügelte Löwen mit Menschenköpfen … die Cherubim der Antike. Ich glaub's ja nicht.«

      »Hätten wir noch einen weiteren Beweis dafür gebraucht, dass es sich hier um eine antike Karawane handelt … das wäre er wohl.«

      »Die Form dieses Gefäßes ist kanaanitisch«, sagte er. Das Wort tanzte über seine Zunge. »Vielleicht etwas, das sie eingetauscht haben.«

      Sie wog das Gefäß, indem sie ihre Hand leicht federte. »Ziemlich schwer für seine Größe. Vielleicht ist etwas drin.«

      Er zwinkerte. »Es gibt nur einen Weg, das rauszufinden.«

      Sarah zog am Pfropfen, doch dieser hatte sich leicht verkeilt. Sie drehte ihn abwechselnd nach links und rechts, bis er nachgab. Dann blickte sie in den dunklen Hals des Gefäßes. »Sehen kann ich nichts.« Sie brachte es an ihre Nase und setzte sich kerzengerade auf, als sie den unerwarteten Geruch einatmete.

      Sie drehte sich zu Daniel um. »Es ist süß.« Sarah schnupperte wieder und sog einen Duft ein, der an Feigenblüten erinnerte. »Honig. Definitiv Honig.«

      Daniel streckte eine Hand aus und sie reichte ihm das Gefäß. Auch er schnupperte daran, dann neigte er das Behältnis, bis ein kleiner Tropfen goldener, zäher Flüssigkeit an dessen Rand erschien. Er lächelte ihr zu. »Eine großartige Entdeckung, Dr. Weston.«

      »Ja, das ist es«, donnerte eine tiefe Stimme hinter ihnen.

      Beide drehten die Köpfe in Richtung dieser Stimme herum.

      Vier Männer saßen hinter ihnen auf Kamelen. Sie trugen lange, schwarze, hochgeschlossene Thoben mit Sarongs darunter und ärmellose wollene Kibrs, die um die Taille herum zweifach gegürtet waren. Rotkarierte Kufiyas verhüllten ihre Köpfe und Schultern. Die beiden hinteren Männer hielten Gewehre und die Zügel von Sarahs und Daniels Pferden in den Händen. Daniels Pferd, ein feuriger schwarzer Hengst, stieg aus Protest auf die Hinterbeine.

      »Ihr habt hier nichts verloren«, sagte der Anführer auf Arabisch. Er hob eine Hand und die Schützen richteten ihre Waffen auf die vermeintlichen Eindringlinge. »Dieses Land gehört uns. Und ebenso alles darin.«

      Daniel erhob sich langsam und sprach den Mann auf Arabisch an. »Die Al Murra sind ein friedliebendes Volk. Weshalb bedroht ihr uns?«

      »Wir beschützen unser Erbe.«

      »Aber wir sind Wissenschaftler. Wir können euch helfen, den Ursprung und die Chronologie dieser Hinterlassenschaften zu bestimmen.«

      »Wir brauchen euch nicht. Wir wissen, was wir wissen müssen.« Er und ein weiterer Mann stiegen ab. »Eure Wissenschaft wird nie die ganze Wahrheit enthüllen. Jetzt knie dich neben sie.«

      Daniel ging auf die Knie.

      »Hände hinter den Kopf. Alle beide.«

      Sarah warf erst den beiden Schützen, deren Waffen noch immer auf sie gerichtet waren, dann Daniel einen Blick zu. Sein Ausdruck war angespannt, sein Kiefer verkrampft. Schweiß rann seine Schläfe hinab und grub einen Fluss in den sandigen Film, der seine sonnengebräunte Haut bedeckte. Sie sah zu, wie die beiden Stammesangehörigen den Sattel ächzend anhoben.

      Klumpen sonnengebrannten Sandes fielen von ihm ab, als er sein Wüstengrab verließ. Die Männer stopften den Honigtopf in die Satteltasche und hoben den Sattel auf eines der Kamele.

      »Das ist kriminell«, sagte Sarah. »Er steht euch nicht zu. Er gehört dem Volk.«

      Ihr Anführer durchbohrte sie mit wütendem Blick und richtete einen braunen, staubverkrusteten Finger auf sie. »In diesem Land reden Frauen nur, wenn man sie anspricht. Stelle niemals die Autorität eines Mannes infrage. Du bist nicht ebenbürtig.«

      Sie errötete. Obwohl sie die Regeln hierzulande kannte, hatte sie Schwierigkeiten damit, die Rolle der unterwürfigen Frau zu spielen.