Daphne Niko

DAS RÄTSEL SALOMONS


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Adern des durchscheinenden Steins zum Vorschein. Sarah hatte die Leuchtstoffröhren im Labor absichtlich ausgeschaltet und arbeitete unter dem Lampenlicht, sodass der Stein zu ihr sprechen konnte. Am Alabaster selbst fand sie nichts Außergewöhnliches, abgesehen von der Prägung auf dem Deckel.

      Die Konturen waren verblasst, aber unverkennbar: zwei Löwen im Profil. Ihre humanoiden Gesichter waren einander zugewandt, weniger feindselig als vielmehr in offensichtlicher Verehrung der leeren Fläche zwischen ihnen. Aus ihren Rücken wuchsen Flügel, die zum Flug bereit ausgebreitet waren. Sie waren die Cherubim der Antike – nicht die engelsgleichen Kreaturen des Christentums, sondern Tierhybriden, die spirituelle Wesen oder Wächter repräsentierten.

      Sarah schob sich eine Locke hinters Ohr, die sich in ihre Augen verirrt hatte.

      Sie sah zu Daniel hinüber. Die flackernde Flamme tanzte über die harten Kanten seines Gesichts und betonte die Falten unter seinen Augen, die von seinen Jahren des praktischen Einsatzes zeugten.

      »Okay, Sarah«, sagte er. »Du hast lang genug mit diesem Ding geflirtet. Es wird Zeit nachzusehen, was drin ist.«

      Sarahs Vorfreude war über die Tage hinweg gewachsen, in denen sie die Schatulle aus jeder Perspektive studiert und erfasst hatte. Sie hatte den Drang unterdrücken müssen, sich schnell zu ihrem Inhalt vorzuarbeiten, da Eile sie Informationen kosten könnte, die ihnen helfen würden, den Fund auszuwerten. Jetzt wurde die unerträgliche Geduldsprobe endlich belohnt.

      Langsam hob sie den Deckel an. Er ließ sich nicht sofort öffnen; eine Sandkruste hatte sich in den Nuten gebildet und fungierte als natürliches Siegel. Behutsam drehte sie daran, und er gab nach. Als sie den Deckel entfernte, verspürte sie einen vertrauten Taumel, eine Mischung aus Spannung und Faszination.

      Daniel lehnte sich zurück und rieb sich den Nacken. »Das ist so ziemlich das Letzte, was ich inmitten dieser Wüste zu finden erwarten würde.«

      Sarahs Blick flog über die Bahn des zusammengerollten Papyrus und registrierte die Dichte der Fasern. Während ihrer Karriere hatte sie viele Schriftrollen gesehen, aber die meisten waren in Fetzen gewesen. Dieses Exemplar war sowohl von guter Verarbeitung als auch in gutem Zustand. Sie konnte den Blick nicht davon abwenden.

      »Es ist höchst ungewöhnlich, hier Papyri zu finden«, fuhr er fort. »Ich habe jede Menge Pergament aus Tierhäuten gesehen, aber das … das ist außergewöhnlich.«

      »Ich stimme dir zu. Das stammt wahrscheinlich nicht von hier. Vielleicht kommt es von einer Händlerkarawane.«

      »Vielleicht. Es ist zu früh, um das bestimmen zu können.« Er starrte die Schriftrolle lange an. »Lass uns nachsehen, was der Schreiber zu sagen hatte. Das wird uns einen Hinweis geben.«

      Nachdem sie die Abmessungen und Besonderheiten der Schriftrolle fotografiert und protokolliert hatte, löste Sarah die schmutzige Kordel, die dreimal um ihre Mitte geschlungen war, und legte das zerbrechliche Schriftstück auf ein Tablett. Mit extremer Vorsicht, um das alte Dokument nicht zu zerbrechen oder anderweitig zu beschädigen, rollte sie es mit behandschuhten Händen auseinander.

      Der Papyrus war dick, was vermutlich erklärte, warum er so wenig Schaden erlitten hatte. Sie nahm an, dass derjenige, der ihn gefertigt hatte, ein Experte gewesen war. Die Ränder waren ausgefranst und wiesen einige kleine Risse auf, aber ansonsten war die Schriftrolle intakt, was die Interpretation der ausführlichen Handschrift vereinfachen würde.

      Sarah begutachtete die in schwarzer Tinte geschriebenen Schriftzeichen. »Hieratisch. So gut wie jedes Wort ist lesbar. Das ist fast zu schön, um wahr zu sein.«

      »Das ist merkwürdig«, sagte Daniel. »Hieratisch wurde fast ausschließlich für heilige Texte in Ägypten verwendet. Was hat Derartiges hier zu suchen?«

      Sarah erinnerte sich daran, wie nahe das Kistchen an den Fingerknochen gelegen hatte. »Was immer es ist, jemand hielt es fest, als er starb. Das ist ziemlich vielsagend, findest du nicht?«

      »Richtig. Ich bin gespannt, wie der 14C aussieht. Es gibt ein Labor in Arizona, das Papyri durch AMS datieren kann. Wir brauchen nur eine winzige Probe.«

      Obwohl sie noch nicht die Gelegenheit gehabt hatte, davon Gebrauch zu machen, wusste sie alles über die Beschleuniger-Massenspektrometrie, welche die University of Arizona verwendete. In dieser Einrichtung waren auch die Schriftrollen vom Toten Meer und andere biblische Texte durch die Zählung von 14C-Atomen – anstelle der Messung ihres Zerfalls – datiert worden. Das Verfahren war zu einem der bedeutendsten Hilfsmittel der Archäologie geworden.

      Sie richtete ihren Blick auf die hieratischen Zeichen. Die Schrift war so fließend und elegant, dass sie annahm, sie war von einem äußerst erfahrenen Schreiber verfasst worden – möglicherweise jemandem an einem königlichen Hof oder aus der Priesterschaft. »Was ist mit der Übersetzung des Textes? Irgendwelche Ideen?«

      »Ich werde ihn der besten Linguistin der König-Saud schicken, die Expertin in antiken Sprachen ist. Sie ist gut und sie ist schnell. Ich wette, sie kann das in zwei Monaten erledigen.«

      Angesichts des möglichen Ausmaßes des Fundes erschienen zwei Monate wie eine Ewigkeit. Aber so war die Realität eines Archäologen nun einmal: Die ultimative Übung in Geduld stellte das wahre Übel des Vorgangs dar.

      Geduld allerdings war nie eine von Sarahs Stärken gewesen. Sie hatte einen eigenen Plan.

      Kapitel 3

      Mein Sohn,

       Die Dämmerung des Lebens bricht über mir herein.

       Ich wandere barfuß durch die Wüste, auf der Suche nach meiner Liebsten.

       Mit Besitztümern und Weisheit und Ehefrauen war ich reichlich gesegnet,

       Doch nun, da meine Jugend schwindet und meine Kräfte mich verlassen,

       Suche ich Trost an ihrer Brust.

       Was nutzt ein Wissen, dessen einziger Bewahrer du selbst nur bist?

       Was nutzt ein göttliches Geheimnis, das ins Grab du tragen musst?

       Höre mich an, mein Sohn, und werde dessen würdig, was ich dir gewähre,

       Denn es wird erblühen und Früchte tragen für alle Zeit und immerdar.

      Der Obstgarten trägt Feigen im Überfluss, die Reben sind von Trauben schwer.

       Wenn das Gesicht meiner Liebsten sich aus den Schatten löst,

       Werden alle Geheimnisse gelüftet.

       Ihre Schönheit erhellt den Pfad und die schwarzen Steine,

       Und ich, zu machtlos, um zu widerstehen, folge ihr.

      Welche Gewalt besitzt du über mich, oh holde Nymphe?

       Und sie saget, All was verborgen, will ich dir zeigen,

       Mit all was dich hungert, will ich dich sättigen,

       Doch nur, wenn du treu mir bist.

       Folge mir nun zu den Wällen unter dem Blick des Berges,

       Und habe teil an meiner Liebe, denn wenn der Hahn kräht, so bin ich fort,

       Doch du wirst haben, all was du begehrst.

       Unsere Liebe ist ein vollkommner Ring, aus weltlicher Substanz geschmiedet,

       Doch von himmlischer Gnade geweiht.

       Sein Geheimnis offenbart sich, und siehe! die Verzückung im Himmel.

       Deine Schatztruhe reiche mir, und ich reiche dir den Schlüssel, der sie aufsperrt.

      Unter dem dunkelsten Schleier der Nacht erscheint die Verführerin.

       Sie duftet nach Balsam und feinen Gewürzen, und ihre Finger sind goldbestäubt.

       Sterbliche Männer sind wehrlos ob ihrer Schönheit

       Und werden von ihr angezogen wie Nachtfalter vom Feuer.

       Hütet euch, Brüder, denn