am anderen Ende meldete. Warum nur konnte sie sich diesen Mann nicht aus dem Kopf schlagen? Diesen Mann, dessen Augen ihr manchmal mehr zu sagen schienen als sein Mund, der jedoch noch nie auch nur den geringsten Annäherungsversuch unternommen hatte…
»Frau Wagner?«
»Ja«, sagte sie, froh, aus ihren Gedanken gerissen worden zu sein. »Wie geht es Frau Roth, Herr Winter?» Sie hatte ihn zunächst mit »Dr. Winter« angesprochen, bis er sie eines Tages gebeten hatte, den Titel wegzulassen. Warum fiel ihr das gerade jetzt ein? Verwirrt versuchte sie, sich auf das zu konzentrieren, was er gerade sagte.
»… besser, endlich«, hörte sie. Den Anfang des Satzes hatte sie nicht mitbekommen. »Wir werden sie in der nächsten Stunde auf die Innere verlegen und dafür sorgen, daß sich dort eine junge Ärztin vor allem um sie kümmert.«
»Sie ist also nicht in Lebensgefahr?«
»Nicht mehr«, antwortete er ernst. »Aber sie war es lange genug, Frau Wagner. Es kann gut sein, daß Sie ihr das Leben dadurch gerettet haben, daß Sie mir diese Information haben zukommen lassen. So konnten wir gleich ganz gezielt vorgehen.«
»Ja, das war meine Überlegung dabei«, erwiderte sie, »aber als ich das meinem Chef sagte, hat er mir fast den Kopf abgerissen. Er hat so getan, als hätte ich intime Geheimnisse eines Stammgastes an die Klatschpresse weitergegeben.«
Obwohl er müde und erschöpft war, lachte er leise. »Das ist ein Verhalten, das ich mit Ihnen überhaupt nicht in Verbindung bringen kann, Frau Wagner, eine völlig unmögliche Vorstellung!«
»Danke schön«, sagte sie aufrichtig, »das ist ein sehr schönes Kompliment, Herr Winter. Vielleicht sollte ich Sie demnächst mal mit Herrn Wingensiefen bekannt machen, und Sie erzählen ihm, was für ein Bild Sie von mir haben. Seins scheint im Augenblick ein wenig getrübt zu sein.«
Sie klang so niedergeschlagen, daß er sofort fragte: »Glauben Sie das im Ernst? Sie werden sich doch von Ihrem Chef nicht unterkriegen lassen? Das würde gar nicht zu Ihnen passen.«
Sie klang schon wieder munterer. »Nein, das tue ich auch nicht«, sagte sie, »es war nur heute wieder einmal einer dieser Tage, wo er mir, mit Verlaub, ziemlich auf die Nerven gegangen ist.«
»Wenn ich etwas tun kann, um Sie aufzuheitern, dann sagen Sie es mir«, bat er. »Wie wäre es denn, wenn wir in den nächsten Tagen wieder einmal miteinander essen gingen?«
»Sehr gern«, sagte sie – so schnell, daß es ihr gleich hinterher ein wenig peinlich war.
»Fein. Übermorgen?«
Da hatte sie einen Termin, aber den würde sie absagen – vielleicht gelang es ihr ja doch noch, Dr. Adrian Winter näherzukommen. »In Ordnung.«
Sie verabredeten Ort und Zeit und legten beide sehr zufrieden auf. Stefanies glückliches Lächeln sah niemand, da sie ganz allein im Büro war. Adrian jedoch wurde von Bernd Schäfer mißtrauisch gefragt: »Sag mal, hast du im Lotto gewonnen – oder was ist sonst passiert? Du grinst wie ein Honigkuchenpferd – und das nach einem so anstrengenden Tag. Da kann doch etwas nicht stimmen!«
»Ich habe nicht im Lotto gewonnen, Bernd«, versicherte Adrian. »Aber ich habe eben ein ausgeglichenes Naturell, und deshalb lächele ich selbst nach anstrengenden Tagen.« Mit diesen Worten ließ er seinen Kollegen stehen und eilte, leise vor sich hin pfeifend, wieder an seine Arbeit.
»Bestimmt steckt eine Frau dahinter«, brummte Bernd und strebte zu einem Automaten, um sich einen Riegel Schokolade zu ziehen. Er hatte mindestens fünfzehn Kilo zu viel und wußte, daß Süßigkeiten sein Verderben waren, aber es gelang ihm nicht, etwas dagegen zu unternehmen. Schon gar nicht, wenn er frustriert war, und das war im Augenblick der Fall, denn er hatte sich bei einer sehr attraktiven jungen Ärztin vor einigen Tagen einen Korb geholt.
Der Schokoladenriegel verschwand mit ungeheurer Geschwindigkeit in seinem Mund, und danach sah die Welt schon wieder angenehmer aus. Als er sich wenig später zu Adrian gesellte, fragte dieser scheinheilig: »Wieso siehst du denn so glücklich aus – nach einem so anstrengenden Tag?«
»Das muß mein ausgeglichenes Gemüt sein«, erwiderte Bernd ebenso scheinheilig.
Ihre Blicke trafen sich, dann lachten sie beide. Sie kannten einander schon lange, und ihre kleinen Scherze, mit denen sie sich über den jeweils anderen, aber auch über sich selbst lustig machten, gehörten einfach dazu.
*
»Wo ist Frau Gerold?« fragte Julia Martensen, als sie die Innere Station betrat.
Janine wurde gerufen und kam gleich darauf angerannt. Sie hatte großen Respekt vor der älteren Ärztin, die hier auf der Station als unangefochtene Autorität galt. Dazu trug auch bei, daß Dr. Martensen oft in der Notaufnahme arbeitete und deshalb über breit gefächerte Erfahrungen verfügte. Außerdem war bekannt, daß Dr. Adrian Winter, der die Notaufnahme leitete, an seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter höchste Ansprüche stellte. Und da er mit Dr. Martensen schon seit langem regelmäßig zusammenarbeitete, war das so etwas wie ein Ritterschlag.
»Wir verlegen morgen früh eine Patientin hierher auf die Innere, die einen Zusammenbruch nach schwerem Alkohol- und Drogenmißbrauch hatte, Frau Gerold«, sagte Julia. »Bis eben haben wir sie in der Notaufnahme behandelt – sie schwebte in Lebensgefahr, aber nun sieht es so aus, als sei das Schlimmste überstanden. Die Frau braucht intensive Betreuung – und ich habe mit dem Diensthabenden hier auf der Station schon gesprochen, daß Sie das übernehmen sollen. Einverstanden?«
»Ja, sicher«, sagte Janine, die noch nicht genau wußte, ob sie sich über diesen Vertrauensbeweis freuen oder sich lieber vor der Aufgabe fürchten sollte.
»Es handelt sich um Alida Roth«, fuhr Julia fort und behielt ihre jüngere Kollegin dabei scharf im Auge.
Wie erwartet machte Janine große Augen, als sie den Namen hörte. »Die Alida Roth«, fragte sie. »Die Witwe des Reeders?«
»Genau die«, antwortete Julia knapp. »Sie ist fünfundfünfzig Jahre alt und in schlechter Verfassung – ganz sicher nicht nur körperlich. Sie bekommt ein Einzelzimmer, und ich möchte, daß Sie sie möglichst wenig allein lassen, während Ihrer Dienstzeit.«
»Ja, sicher«, hauchte Janine. »Glauben Sie denn… also, ich meine, rechnen Sie denn damit, daß sie…«
»Es war kein Selbstmordversuch, falls Sie das annehmen«, erklärte Julia und fügte leiser hinzu: »Frau Roth begeht offenbar Selbstmord auf Raten – aber ich bin nicht sicher, ob sie das überhaupt weiß.«
»Ich verstehe«, sagte Janine. »Auf keinen Fall darf sie also Zugang zu Alkohol oder Medikamenten haben.«
»So ist es. Wir müssen versuchen, sie von der Notwendigkeit einer Entziehungskur zu überzeugen – und das möglichst schnell. Sie ist in einem erbärmlichen Zustand.«
Janine zögerte, fragte dann aber doch: »Warum gerade ich, Frau Martensen? Ich habe doch noch sehr wenig Erfahrung.«
Julia sah die aparte junge Frau mit den schönen grünen Augen nachdenklich an, dann lächelte sie. »Reiner Instinkt von mir. Ich hoffe, Sie gewinnen Frau Roths Vertrauen – Sie sind ihr ähnlich.«
»Ähnlich? Ich?«
Janine war so bestürzt, daß Julia rasch erklärte: »Rein äußerlich, Frau Gerold. Sie muß als junge Frau so ähnlich ausgesehen haben wie Sie, ich habe Fotos von ihr gesehen. Es kann allerdings sein, daß meine Rechnung nicht aufgeht.«
»Wenn ich sie an ihre verlorene Jugend erinnere und sie das nicht verkraftet, dann haßt sie mich bestimmt«, sagte Janine leise.
Julia nahm diese Worte als Beweis für die Sensibilität der jungen Frau und dachte im stillen, daß sie durchaus Recht haben konnte mit ihrer Vermutung. »Lassen Sie es uns versuchen«, sagte sie trotzdem. »Wenn es gar nicht geht, dann muß eben jemand anderes diese Aufgabe übernehmen. Oder möchten Sie gleich einen Rückzieher machen? Zwingen will ich Sie nicht, Frau Gerold.«
»Ich will es gern