Notaufnahme.
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Stefanie ging an diesem Abend früher als sonst nach Hause – und das hing vor allem mit ihrem noch immer brodelnden Zorn auf Andreas Wingensiefen zusammen. Sie blieb normalerweise bis neun oder zehn im Hotel, oft genug wurde es auch noch später. Wenn es ein Problem gab oder viel Arbeit liegen geblieben war, dann brachte sie es nicht fertig, einfach nach Hause zu gehen, sondern arbeitete so lange, bis alles erledigt war.
Doch heute ging sie, obwohl sie noch mindestens zwei Stunden zu tun gehabt hätte, um alles aufzuarbeiten, was sich auf ihrem Schreibtisch stapelte. Die Rezeptionisten sahen ihr verwundert nach, als sie zu ungewohnt früher Stunde und mit einem knapperen Gruß als gewöhnlich an ihnen vorüber nach draußen schoß. Stefanie war nicht nur deshalb im Hotel so beliebt, weil sie schuftete wie ein Pferd, sondern auch, weil sie immer freundlich und zudem bereit war, sich die Anliegen eines jeden anzuhören, der im Hotel arbeitete. Sie machte keinen Unterschied zwischen einem Küchenjungen und einem Prokuristen, und das wurde ihr allgemein hoch angerechnet.
Daß sie an diesem Abend ein höchst verschlossenes Gesicht machte, fiel jedem auf, der ihr begegnete – und bald war man sich einig darüber, daß das, wieder einmal, die Schuld des Chefs war, der unbegreiflicherweise immer noch nicht begriffen zu haben schien, was er an seiner engsten Mitarbeiterin hatte.
Stefanie ließ ihr Auto stehen und stürmte zu Fuß nach Hause. So wütend war sie, daß sie nicht nach rechts oder links sah, sondern einfach so schnell lief, bis sie völlig außer Atem zu Hause ankam. Und sie wäre sicher genauso weiter die Treppen hinaufgestürmt, wenn nicht die freundliche Stimme ihres neuen Nachbarn sie aufgehalten hätte: »Hallo, Frau Wagner. Welche Laus ist Ihnen denn über die Leber gelaufen?«
Sie blieb stehen und sah sich um. »Ach, Sie sind’s, Herr Weyrich«, sagte sie und lächelte unwillkürlich, denn er war ein ausgesprochen sympathischer Mann. Sie wußte praktisch nichts von ihm, weil er ein sehr zurückgezogenes Leben führte und offenbar sehr viel arbeitete, aber wann immer sie sich trafen, wechselten sie ein paar Worte miteinander.
»Also?« fragte er wieder. »Wie heißt die Laus?«
»Sieht man mir das so deutlich an?« fragte sie, fast schuldbewußt.
»Und ob. Sie haben eine steile Falte auf der Stirn, die ich vorher noch nie gesehen habe – und Ihre Augen funkeln so kampflustig, daß ich richtig Angst bekäme, wenn ich nicht wüßte, daß Sie unmöglich auf mich zornig sein können.«
Nun mußte sie lachen. »Auf Sie wirklich nicht«, sagte sie. »Ich bin sauer auf meinen Chef – er muß einfach immer mal wieder den Macho herauskehren, und das kann ich nicht leiden, weil es völlig überflüssig ist. Er verdirbt mir nur die Laune und treibt mich, wie heute, vorzeitig von meinem Schreibtisch weg, weil ich plötzlich keine Lust mehr habe, mich von ihm schikanieren zu lassen. Und darunter leidet die Arbeit dann wirklich.«
Er betrachtete sie nachdenklich, dann sagte er spontan: »Trinken Sie ein Glas Wein mit mir! Sie brauchen ein bißchen Abwechslung, scheint mir – und ich bin heute auch nicht böse drum. Mich hat zwar niemand geärgert, aber es war ein durchaus anstrengender Arbeitstag.«
»Ich weiß nicht einmal, wo Sie arbeiten«, stellte sie fest.
»Kommen Sie herein, dann erzähle ich es Ihnen«, sagte er.
Sie ließ sich nicht lange bitten, sondern folgte seiner Einladung. An diesem Abend konnte ihr nichts Besseres passieren, fand sie.
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Janine und Andrea saßen beim Abendessen in der Küche ihrer kleinen Wohnung und berichteten einander die Ereignisse des Tages. Seit dem gemeinsamen Mittagessen hatten sie sich nicht mehr gesehen, denn Janine war an diesem Abend ungewöhnlich spät nach Hause gekommen, weil auf der Inneren so viel zu tun gewesen war, daß sie nicht einfach hatte gehen können.
Als Janine schließlich zögernd von ihrem Gespräch mit Julia Martensen erzählte, ließ Andrea sofort die Gabel sinken und sah ihre Freundin mit offenem Mund an. »Alida Roth? Diese Frau, über die jede Woche ein Artikel in irgendeinem Klatschblatt steht?«
»Ja, die Witwe des Reeders.«
»Und die soll mal so ausgesehen haben wie du? Nie im Leben, Janine. Ich habe erst kürzlich ein Foto von ihr gesehen – also, da sah sie aus wie mindestens siebzig.«
»Sie ist Mitte fünfzig«, stellte Janine klar. »Und wenn sie schon lange zu viel trinkt, ist es kein Wunder, daß sie nicht gut aussieht. Außerdem hat sie grüne Augen, wie ich. Das stimmt schon mal.«
Andrea blieb skeptisch. »Die haßt dich garantiert, jung und schön wie du bist«, meinte sie. »Komische Idee von Dr. Martensen, ausgerechnet so eine Schöne wie dich mit der Sonderbetreuung zu beauftragen.«
»Zuerst war ich auch ziemlich erschrocken«, bekannte Janine, »aber jetzt finde ich eher, daß es eine interessante Aufgabe ist.«
»Interessant ja«, gab Andrea zu, »aber kniffelig. Alkoholiker sind unberechenbar, Janine. Und wenn sie außerdem noch Drogen nimmt – Mann, da kommt ja ’ne Menge auf dich zu.«
»Das glaube ich allerdings auch«, meinte Janine. »Aber ich bin ja nicht allein.«
»Und Dr. Weyrich?« erkundigte sich Andrea. »Immerhin hat der sie ja wohl auch behandelt in der Notaufnahme. Vielleicht läßt er sich mal blicken auf der Inneren, um zu sehen, wie es ihr geht? Dr. Winter macht das immer, das habe ich schon oft gehört. Der beschränkt sich nicht auf die Notaufnahme, sondern besucht Patienten, die er behandelt hat, auch auf den anderen Stationen.«
Janine war flammend rot geworden. »Es ist ja nicht jeder wie Dr. Winter«, sagte sie.
»Leider, nicht?« grinste Andrea. »Eine interessante Sonderaufgabe und tägliche Besuche des heimlich angebeteten Arztes – kannst du dir noch mehr vom Leben wünschen?«
Sie machte bei dieser Frage ein so treuherziges Gesicht, daß Janine schließlich ihre Verlegenheit vergaß. »Hör auf, mich ständig mit Dr. Weyrich aufzuziehen«, sagte sie. »Es tut mir schon leid, daß ich dir überhaupt davon erzählt habe.«
»Ich bin ja schon still«, sagte Andrea friedlich – und tatsächlich nahm sie den Namen des attraktiven jungen Arztes an diesem Abend nicht mehr in den Mund.
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Stefanie verschluckte sich fast, als sie hörte, welchen Beruf Marc Weyrich ausübte – und wo er das tat. »Sie sind Unfallchirurg und arbeiten in der Notaufnahme der Kurfürstenklinik?« fragte sie.
Er betrachtete sie erstaunt. »Was bringt Sie denn daran so aus der Fassung?« fragte er.
»Überhaupt nichts!« versicherte sie eilig, denn sie würde ihm nicht verraten, welche besondere Beziehung sie mit dieser Notaufnahme verband. Das war ihr Geheimnis und ging ihn nichts an, obwohl es ungeheuer verführerisch gewesen wäre, jetzt zu fragen: »Dann arbeiten Sie also mit Dr. Winter zusammen?« Doch sie sagte nichts dergleichen.
»Es ist nur so«, fuhr sie fort, »daß ich gar nicht auf die Idee gekommen bin, Sie könnten Arzt sein.«
»Wieso?« fragte er gekränkt. »Wie sehe ich denn aus? Wie ein Buchhalter? Wie ein Lehrer? Wie ein Bankkaufmann?«
Sie lachte hellauf. »Nun seien Sie bloß nicht beleidigt, Herr Doktor!«
Er drohte ihr. »Lassen Sie den Titel weg, ich höre ihn tagsüber oft genug – in meinem Privatleben mag ich ihn nicht.«
»Ich hätte Sie eher für einen Bankkaufmann gehalten«, behauptete sie todernst, »Sie haben so etwas ungeheuer Seriöses.«
Erneut wollte er empört reagieren, doch dann sah er ihre Augen und fing an zu lachen. Sie alberten noch eine Weile in dieser Art herum, bis Stefanie wieder ernst wurde und sagte: »Heute ist übrigens einer unserer Stammgäste nach einem Zusammenbruch bei Ihnen eingeliefert worden – Frau Roth. Hatten Sie mit ihr zu tun?«
Er nickte. Nun war es an ihm, erstaunt zu sein. »Sie arbeiten also in einem Hotel?« fragte er. »Sehen Sie, das hätte ich nun auch