zuckte mit den Schultern. »Ich glaube gar nicht, daß ich besonders hartnäckig bin, Frau Roth.«
»O doch, jede andere junge Ärztin hätte genauso lange bei mir ausgeharrt, wie ihr Dienst es ihr vorgeschrieben hätte – und dann wäre sie schleunigst gegangen. Aber Sie sitzen immer noch hier – an einem schönen Abend wie diesem.«
»Ich denke mir, es ist wichtiger, bei Ihnen zu bleiben, als jetzt nach Hause zu gehen«, erklärte Janine.
»Wie meinen Sie das?« fragte Alida.
»Ich kann es nicht genau erklären, Frau Roth, aber ich habe das Gefühl, ich kann etwas für Sie tun. Und umgekehrt habe ich dieses Gefühl komischerweise auch – daß Sie nämlich etwas für mich tun können.« Sie lächelte verlegen. »Halten Sie mich bitte nicht für albern, aber ich glaube, wir sind einander ähnlich – nicht nur äußerlich.«
Die Ältere schwieg – so lange, daß Janine schon glaubte, sie sei eingeschlafen. Dann sagte sie auf einmal: »Wenn wir einander ähnlich sind, dann kann ich nur für Sie hoffen, daß Sie mit Ihrem Leben mehr anfangen, als ich es getan habe.«
Janine sah in die grünen Augen, die ihr wie ein Spiegelbild ihrer eigenen erschienen und erwiderte leise: »Wenn Sie mir etwas aus Ihrem Leben erzählen, dann kann ich vielleicht etwas daraus lernen.«
Unvermittelt wurde das Gesicht der anderen hart und verschlossen, die grünen Augen funkelten die junge Ärztin böse an. »Haben Sie gedacht, ich falle auf Ihre Masche herein? Sie glauben wohl, so kriegen Sie mich zum Reden – und irgendwann haben Sie mich weichgekocht, und ich stimme auch einer Entziehungskur zu, was? Nicht mit mir, Frau Dr. Gerold, nicht mit mir!«
Janine war viel zu erschrocken, um sofort etwas auf diese Vorwürfe zu erwidern. Stumm starrte sie Alida Roth an, stumm und feindselig erwiderte diese ihren Blick. Es war die Ältere, die sich zuerst abwandte.
Janine blieb noch fast eine Stunde. In dieser Zeit fiel kein Wort. Als Janine endlich aufstand, sagte sie mit einer ganz fremden Stimme: »Gute Nacht, Frau Roth. Bis morgen.«
Sie ging zur Tür, öffnete sie und schloß sie geräuschlos wieder. Ihr war zum Weinen zumute, ohne daß sie hätte sagen können, warum.
Alida Roth starrte der jungen Ärztin nach. Verflixt, warum fühlte sie sich jetzt so mies? Sie hatte doch nur gesagt, was vermutlich der Wahrheit entsprach! Kein Grund also, sich darüber noch länger Gedanken zu machen.
Aber etwas an Janine Gerolds Gesicht hatte ihr gesagt, daß sie Unrecht hatte. »Verdammt noch mal«, murmelte sie vor sich hin, »ich werde nicht anfangen, dieses junge Ding gernzuhaben. Nein, das werde ich nicht!«
Sie schloß die Augen und drehte sich auf die Seite. Wenn sie doch nur einen Whisky hätte trinken können!
*
»Na, endlich!« rief Carola Senftleben, als Adrian an ihrer Tür klingelte. Seine fast siebzigjährige Nachbarin hatte ihn an diesem Abend, wie so oft, zum Essen eingeladen und auf ihn gewartet. »Ich bin halb verhungert, Adrian. Sie hatten also viel zu tun?«
Er folgte ihr in ihre große Küche, die das Herzstück der Wohnung bildete – nicht nur, weil sie gemütlich und perfekt ausgestattet war, sondern auch, weil Frau Senftleben sich hier am liebsten aufhielt, und das merkte man dem Raum an. Auch Adrian kannte von der Wohnung seiner Nachbarin die Küche am besten, und das aus gutem Grund: Hier nahm er in der Regel mindestens zweimal in der Woche zusammen mit Frau Senftleben ein erstklassiges Mahl ein.
»Nur der Gedanke an das Abendessen mit Ihnen hat mich in den letzten Stunden aufrecht gehalten, Frau Senftleben«, erklärte er, und das war nicht gelogen. »Wir hatten schrecklich viel zu tun, so viel wie schon lange nicht mehr.«
»Setzen Sie sich«, kommandierte sie freundlich. »Es ist alles fertig, wir können sofort essen.«
»Sie hätten nicht auf mich warten sollen«, sagte er reumütig. »Ich bringe Ihre ganze Planung durcheinander, Frau Senftleben, durch meine unregelmäßigen Arbeitszeiten.«
»Reden Sie kein dummes Zeug, Adrian«, wies sie ihn mit gespielter Strenge zurecht. »Ich habe doch gewußt, worauf ich mich einlasse, wenn ich mich mit einem jungen Notaufnahmechef befreunde.«
Es machte ihn glücklich zu hören, daß sie von ihm als einem Freund sprach, und so strahlte er sie an und ließ sich den Teller reichlich füllen. Sie war nämlich der Ansicht, daß er nur bei ihr etwas Ordentliches zu essen bekam, und ganz falsch lag sie mit dieser Meinung nicht. Adrian hatte einen fatalen Hang zu Fertiggerichten, die er, kaum erwärmt, hinunterschlang, ohne überhaupt richtig zu bemerken, was er aß. Für die Küche fehlte ihm jegliche Begabung.
Als sie ihm gegenübersaß und sie beide die ersten Bissen des vorzüglichen Huhns in Weißweinsauce genossen hatten, fragte sie: »Was war denn nun Besonderes los bei Ihnen?«
»Viele Unfälle«, murmelte er und trank einen Schluck Wein. »Und ein Fall, der mir nicht aus dem Kopf geht. Eine reiche Dame mittleren Alters, die Alkohol und Drogen nimmt und von beidem offenbar zu viel erwischt hat – deshalb ist sie zusammengebrochen und in unsere Notaufnahme eingeliefert worden. Ich war rein zufällig dabei, als sie zusammengebrochen ist und habe sie in die Klinik begleitet. Das war gestern.«
»Da hatten Sie doch einen freien Tag«, sagte sie vorwurfsvoll. »Statt sich auszuruhen und ein wenig zu erholen, sind Sie also an Ihrem freien Tag in die Klinik gegangen.«
»Es hat sich so ergeben, Frau Senftleben!«
»Sie sind ein unverbesserliches Arbeitstier, Adrian«, stellte sie kopfschüttelnd und voller Sorge fest. »Denken Sie mehr an sich selbst – sonst brechen Sie eines Tages selbst zusammen und müssen als Patient in Ihre Klinik gebracht werden.«
Er sagte nichts, und sie fragte: »Was ist nun mit der Frau, deren Zusammenbruch Sie mit angesehen haben?«
»Sie will nicht mehr leben«, sagte er, und auf einmal fühlte er sich müde und ausgebrannt. »Sie trinkt, weil sie unglücklich ist.«
»Das tun die meisten, oder nicht?«
»Viele, ja. Und irgendwann rutschen sie so weit hinein, daß sie abhängig werden – dann ist es meistens zu spät, um sich ohne Probleme wieder vom Alkohol abzuwenden.«
»Und Drogen nimmt sie auch?«
»Kokain. Ich denke, damit könnte sie wieder aufhören, ohne daß es ihr allzu schwer fiele. Aber mit dem Alkohol, das ist eine andere Sache. Sie müßte eine richtige Entziehungskur machen.«
»Und das will sie nicht?«
»Nein«, bestätigte Adrian. »Das will sie nicht.«
Schweigend aßen sie weiter. Schließlich sagte Adrian: »Das sind die Fälle, die schwer zu ertragen sind, Frau Senftleben. Wenn man als Arzt erkennen muß, daß man vermutlich nicht helfen kann – weil es nämlich weniger um medizinische als um ganz andere Hilfe geht. Aber ich wüßte nicht, wen diese Frau überhaupt an sich heranlassen würde.«
Sie nickte mitfühlend, bald darauf wechselte sie behutsam das Thema, weil sie glaubte, ein wenig Ablenkung werde ihrem jungen Nachbarn guttun.
Und so war es auch. Als Adrian sich später von ihr verabschiedete, war sein Gesicht deutlich entspannter als zu Beginn des Abends, denn Carola Senftleben hatte zu einem kleinen Trick gegriffen. Sie hatte ihm aus ihrem Berufsleben als Schneidermeisterin mit eigenem Betrieb erzählt. Und da auch vornehme Damen und Herren bei ihr hatten arbeiten lassen, konnte sie die eine oder andere pikante Geschichte aus dem deutschen Hochadel zum Besten geben. So entführte sie ihren jungen Nachbarn in eine andere Welt. Adrian vergaß für ein paar Stunden Alida Roth und alle anderen Probleme.
»Danke, Frau Senftleben«, sagte er, als er sich an der Tür von ihr verabschiedete. »Für das Essen sowieso, aber auch dafür, daß Sie mir das alles erzählt haben. Es war ein wunderbarer Abend für mich.«
»Für mich auch«, versicherte sie ihm und lächelte.
Er umarmte sie leicht und ging dann zu seiner Wohnung