Nina Kayser-Darius

Kurfürstenklinik Staffel 6 – Arztroman


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nickte, wandte jedoch dabei den Kopf ab. Ganz sicher war sie noch immer nicht, daß die Tränen nicht erneut fließen würden. Sie wußte selbst nicht, wie es hatte passieren können, daß sie vor der Patientin so bitterlich geweint hatte – vielleicht hatte es an Alida Roths mitfühlendem Blick und ihren sanften Worten gelegen. Jedenfalls hatte Janine die Beherrschung verloren und verzweifelt zu schluchzen angefangen. Sie war nur froh, daß währenddessen niemand hereingekommen war.

      »Ich wasche mir eben das Gesicht«, sagte sie leise und ging zum Waschbecken hinüber. Anschließend kehrte sie zu ihrer Patientin zurück, die sie nachdenklich betrachtete.

      Es war eine merkwürdige Verkehrung der Rollen, die in der letzten halben Stunde stattgefunden hatte. Auf einmal schien Janine die Patientin zu sein und Alida Roth die Ärztin. Denn sie war ruhig geblieben, während Janine die Fassung verloren hatte.

      »Tut mir leid, Frau Roth«, sagte sie. »Ich hätte mich nicht so gehen lassen dürfen. Das ist unverzeihlich.«

      »Im Gegenteil, es macht Sie menschlich – und das ist mir sympathischer als eine perfekte junge Ärztin, die alles richtig macht und deshalb kein Verständnis für Fehler hat«, entgegnete Alida mit Nachdruck. »Außerdem darf ich Sie daran erinnern, daß mein größtes Problem wohl ist, daß ich mich in den letzten Jahren allzu sehr habe gehen lassen – ich habe also gerade für diese Schwäche Verständnis.«

      »Aber… es ist so albern«, meinte Janine. »Ich meine, er weiß ja überhaupt nicht, was ich für ihn empfinde. Und natürlich war anzunehmen, daß er eine Freundin hat – ich weiß gar nicht, warum mich das jetzt so umgehauen hat.«

      »Frau Wagner ist mit Sicherheit nicht seine Freundin«, stellte Alida fest. »Sie sind seit neuestem Nachbarn, das ist alles.«

      »Was sagen Sie da? Woher wollen Sie wissen, daß sie nicht auch ein Liebespaar sind? Auf mich haben sie jedenfalls so gewirkt.«

      »Sie haben ja gar nicht richtig hingesehen«, stellte Alida milde fest. »Sie haben nur gesehen, was Ihre geheimen Befürchtungen bestätigt. Die beiden haben wie gute Bekannte gewirkt, nicht wie ein Liebespaar.«

      Janine ließ sich fassungslos auf einen Stuhl neben Alidas Bett fallen. »Manchmal werde ich aus Ihnen nicht klug, Frau Roth«, sagte sie zutiefst verwundert. »Sie haben sofort gesehen, daß ich in Dr. Weyrich verliebt bin – und jetzt behaupten Sie, daß er nicht in Frau Wagner verliebt ist. Dabei ist sie eine sehr schöne Frau – und Männer lieben doch Blondinen über alles.«

      »Reden Sie nicht so töricht«, befahl Alida streng. »Sie wissen doch selbst, daß Sie eine Schönheit sind – Sie brauchen andere Schönheiten wahrhaftig nicht zu fürchten. Außerdem lieben längst nicht alle Männer Blondinen. Und wo haben Sie überhaupt Ihre Augen? Haben Sie nicht bemerkt, wie er immer strahlt, wenn er Sie bloß sieht? Er hat nicht halb so gestrahlt, als er Frau Wagner hier im Zimmer sah, das können Sie mir glauben.«

      »Was wollen Sie damit sagen, Frau Roth?« stammelte Janine entgeistert.

      »Habe ich mich unklar ausgedrückt?« Alidas Stimme klang gereizt. »Daß der Mann in Sie genauso verliebt ist wie Sie in ihn. Aber wenn nicht einer von Ihnen den Anfang macht, dann wird das nie etwas, das garantiere ich Ihnen.«

      Es dauerte eine Weile, bis Janine sich von ihrer Überraschung erholt hatte. Dann beugte sie sich impulsiv über die Patientin und gab ihr einen Kuß auf die Wange. »Danke, Frau Roth«, sagte sie, und ihre grünen Augen strahlten wieder. »Das werde ich Ihnen nie vergessen!«

      »Aber so weit, daß Sie mir eine Flasche Whisky besorgen wollen, geht Ihre Dankbarkeit auch wieder nicht, oder?«

      Sofort erlosch das Strahlen in Janines Augen. »Ach, deshalb haben Sie das gesagt«, murmelte sie, »damit ich Ihnen was zu trinken besorge.«

      »Nein, das stimmt nicht! Ich habe jedes Wort ernst gemeint, das ich gesagt habe«, beteuerte Alida. »Und die Sache mit dem Whisky – na ja…« Sie lächelte ein wenig verlegen. »Ich hätte wahnsinnig gern was zu trinken, aber irgendwie scheint es ja auch ohne zu gehen. Ich glaube, ich hab’s einfach aus Gewohnheit gesagt, Frau Dr. Gerold.«

      »Ehrlich?«

      Alida nickte, und Janine gab ihr noch einmal einen Kuß. »Glauben Sie nicht auch allmählich, daß wir uns gegenseitig helfen könnten?«

      »Es kommt etwas überraschend«, meinte Alida, »aber es sieht tatsächlich ganz so aus.«

      *

      »Toll!« sagte Marc ein ums andere Mal, wann immer sie sich einem neuen Tiergehege zuwandten. »Ich bin so froh, daß Sie mich begleitet haben, Frau Wagner.«

      »Ja, ich freue mich auch«, gab Stefanie zu. »Ich war schon lange nicht mehr hier, muß ich gestehen, dabei hat sich viel verändert, und es gibt unglaublich viel zu sehen.«

      »Ja, nicht wahr?« sagte Marc. »Und jetzt noch die Eisbären!«

      »Aber danach muß ich gehen«, sagte Stefanie nach einem Blick auf die Uhr. »Und zwar ziemlich schnell. Ich weiß sowieso nicht, wie ich meine lange Abwesenheit erklären soll. Normalerweise mache ich so etwas nie, Herr Weyrich.«

      »Gut, daß Sie es mal probiert haben.« Marc grinste wie ein Schuljunge und zog sie zu den Eisbären.

      Bevor sie das Gehege erreicht hatten, erkannten sie jedoch bereits, daß etwas passiert sein mußte, denn es ertönten Warnschreie, und eine kleine Menschenmenge drängte sich vor den Absperrgittern. »Was mag da wohl los sein? Auf die Eisbären hatte ich mich am meisten gefreut.«

      In diesem Augenblick ertönte ein Schrei aus vielen Kehlen. Marc rannte los, Stefanie folgte ihm – und nun sahen sie auch, was passiert war. Einer der Wärter, der die Tiere hatte füttern wollen, war offenbar von einem Eisbären angegriffen worden und lag blutend in der Nähe der Tür.

      Aber das war, wie Stefanie nun voller Entsetzen bemerkte, noch nicht alles. Diese Tür stand offen! Ob der Wärter nicht mehr dazu gekommen war, sie zu schließen, weil der Eisbär ihn sofort angegriffen hatte?

      Das riesige Tier hatte sich einige Meter zurückgezogen, und jemand rief: »Wir müssen dem Mann helfen! Man kann ihn doch nicht einfach da liegen lassen!«

      Eine Frau rannte los, um die Direktion zu verständigen und Hilfe zu holen – und in diesem Augenblick betrat Marc das Gehege. Langsam ging er auf den verletzten Mann zu, den Eisbären dabei nicht aus den Augen lassend. Die Umstehenden hielten den Atem an. Würde es gelingen, den Wärter aus dem Gehege zu ziehen – oder würde der Eisbär angreifen?

      Zentimeter für Zentimeter schob sich Marc an den Verletzten heran. Der Eisbär beobachtete ihn aus seinen kleinen Augen. Er hatte sich hingesetzt und wirkte ein wenig träge, als habe ihn der Angriff auf den Wärter bereits erschöpft.

      Stefanie hätte Marc gern zugerufen, er solle sich von der scheinbaren Ruhe des Tieres nicht täuschen lassen – dessen Augen waren hellwach, und ihnen entging nicht die geringste Bewegung des jungen Arztes. Stefanie stand jetzt ganz dicht am Zaun, direkt neben der Tür. Das Geschehen spielte sich kaum vier Meter von ihr entfernt ab.

      Und dann machte der Eisbär eine blitzschnelle Bewegung nach vorn. Zwei Schritte, ein kurzer Prankenschlag – dann lag Marc ebenso blutüberströmt wie der Wärter am Boden. Die Menge schrie, Stefanie preßte ihre Hand vor den Mund, um ihren eigenen Entsetzensschrei zu ersticken. Jemand schloß die Tür – aber das hieß nur, daß man die beiden verletzten Männer zusammen mit den gefährlichen Tieren einsperrte.

      »Lassen Sie mich durch!« rief Stefanie. »Lassen Sie mich sofort durch!«

      Der Eisbär hatte nun offenbar wirklich genug von diesem Spiel, denn er trollte sich zu seinen Artgenossen weiter hinten im Gehege. Vielleicht war es auch die schreiende Menge jenseits des Zauns, die ihn vertrieb.

      Stefanie boxte sich bis zur Tür durch und herrschte den Mann, der sie zuhielt, an: »Lassen Sie mich durch – wir müssen die beiden da rausholen, schnell! So lange die Eisbären weit genug entfernt sind.«

      »Sind Sie verrückt