Wagner? Winter hier. Ich muß unsere Verabredung leider absagen. Ein Großbrand, ganz hier in unserer Nähe – wir haben in sämtlichen Krankenhäusern der Umgebung Katastrophenalarm. Es ist völlig ausgeschlossen, daß ich heute abend rechtzeitig hier herauskomme. Wir verschieben das Essen, ja?«
»Ja, natürlich«, murmelte sie und wollte gerade eine Frage zu dem Brand stellen, als sie merkte, daß die Leitung bereits wieder tot war. Er hatte schon aufgelegt. Natürlich, dachte sie, er hat’s ja eilig.
Ihre Schultern sackten nach vorn, auf einmal verließ sie jegliche Energie. Was ihr eben noch so leicht von der Hand gegangen war, türmte sich nun als lauter unlösbare Probleme vor ihr auf. Am liebsten hätte sie geweint, doch das verbot sich natürlich.
Dann kam ihr eine Idee, und sie dachte nicht länger darüber nach, sondern griff zum Telefon. Wenig später meldete sich die Stimme ihres neuen Nachbarn. »Hallo, Herr Weyrich, hier ist Wagner.«
»Nanu!« rief er. »Womit habe ich denn das verdient, daß Sie mich anrufen, Frau Wagner?«
»Weil ich meine Meinung geändert habe«, erklärte sie. »In meiner Mittagspause werde ich Frau Roth besuchen – und wenn Sie immer noch in den Zoo wollen, würde ich Sie hinterher begleiten, allerdings nicht lange. Vielleicht für ein Stündchen oder so. Was halten Sie davon?«
»Das fragen Sie noch?« Sie hörte ihm seine Begeisterung an. »Ich habe bis eben geschlafen und könnte jetzt Bäume ausreißen«, erklärte er. »Wann gehen Sie zu Frau Roth? Ich komme dann in die Klinik und hole Sie dort ab.«
Sie versuchte ihm das auszureden, doch er ließ sich auf nichts ein. Also verabredete sie sich mit ihm mittags bei Alida Roth und legte dann auf. Sie fühlte sich besser. Dr. Weyrichs angenehme Gesellschaft würde sie zumindest ein wenig von ihrem entgangenen Abendvergnügen ablenken. Außerdem, dachte sie, ist aufgeschoben ja nicht aufgehoben. Aber gerade heute wäre es so schön gewesen, Herrn Winter zu treffen....
Bevor sie erneut in Frustration versank, wandte sie sich wieder ihrer Arbeit zu. Aber der Schwung der ersten Morgenstunden stellte sich nicht mehr ein.
*
Der Vormittag mit Alida Roth war schwierig gewesen, fand Janine. Sie hatte nicht die richtigen Worte gefunden, um ihren schweigsamen Abgang vom Abend zuvor zu erklären, und die Ältere war sehr in sich gekehrt gewesen. Aber vielleicht war das auch nicht weiter schlimm, versuchte Janine sich zu beruhigen. Man mußte ja nicht ständig reden.
»Ich gehe jetzt etwas essen, Frau Roth«, sagte sie gegen Mittag. »Haben Sie vorher noch einen Wunsch? Oder kann ich Ihnen etwas mitbringen?«
»Was ich gern hätte, bringen Sie mir sowieso nicht mit«, sagte Alida düster. Sie sehnte sich mittlerweile mehr nach einem Glas Whisky, als sie es für möglich gehalten hatte. Trotz ihres hohen Alkoholkonsums war sie bisher doch immer der Ansicht gewesen, die Menge dessen, was sie zu sich nahm, kontrollieren zu können – nun kamen ihr zum ersten Mal Zweifel, denn ihre Gedanken kreisten, das gestand sie zumindest sich selbst offen ein, mehr oder weniger ständig um Alkohol. Auch eine Prise Kokain hätte sie nicht verschmäht – das Hochgefühl, das sie jedesmal überkam, wenn sie geschnupft hatte, vermißte sie.
»Whisky?« fragte Janine ganz ernsthaft.
»Ja«, antwortete Alida mit rauher Stimme. »Wenn Sie wüßten, was mir jetzt ein Whisky wert wäre.« Sie sah die junge Ärztin an und wartete auf eine Reaktion. Sicherlich hatte Frau Dr. Gerold nicht genug Geld – Krankenhausärzte, das wußte jeder, waren überarbeitet und unterbezahlt. Vielleicht hatte sie ja Glück, und die schöne junge Frau mit den grünen Augen und den glänzenden roten Haaren reagierte auf ihr verstecktes Angebot.
Janine schüttelte bedauernd den Kopf. »Ich bringe Ihnen alles mit, was Ihnen nicht schaden kann, Frau Roth – aber ganz bestimmt weder Drogen noch Alkohol. Etwas Süßes vielleicht? Oder etwas zum Lesen?«
Hatte sie nicht begriffen, was ihr soeben angeboten worden war – oder wollte sie es nicht begreifen? »Nein, danke«, sagte Alida abweisend, und Janine verließ ohne ein weiteres Wort das Zimmer.
»Verdammt noch mal!« schimpfte Alida vor sich hin. »Wenn ich bloß könnte, wie ich will, dann säße ich hier nicht so auf dem Trockenen.« Sie begann, ernsthaft darüber nachzudenken, wie sie es schaffen sollte, an Alkohol zu kommen. Es war ja nicht wahrscheinlich, daß alle, die hier arbeiteten, so standhaft waren wie Dr. Gerold – irgendeine mitfühlende Seele mußte es hier auf der Station doch geben. Vielleicht einen Pfleger, der selbst ganz gern mal ein wenig zu tief ins Glas schaute?
Es klopfte leise, und gleich darauf kam eine junge Frau herein, deren Auftauchen Alida in höchstes Erstaunen versetzte – zugleich aber freute sie sich aufrichtig. Außerdem lenkte sie dieser Besuch von ihrem quälenden Bedürfnis nach einem alkoholischen Getränk ab.
»Frau Wagner!« rief sie. »Sie haben Zeit, zu mir zu kommen – wo Sie doch im Hotel immer so beansprucht werden von allen Seiten?«
»Für einen Besuch bei Ihnen reicht die Zeit schon noch, Frau Roth«, sagte Stefanie freundlich und reichte der Patientin ein kleines, in hübsches Papier geschlagenes Päckchen. »Ich habe mich gegen Blumen entschieden, weil die im Krankenhaus ja meistens stören«, erklärte sie. »Aber vielleicht haben Sie Lust, sich ein wenig amüsieren zu lassen. Es ist ein Buch, das ich selbst gern gelesen habe, ich hoffe, Sie haben auch Freude daran.«
»Danke schön«, sagte Alida und legte das Buch auf den Nachttisch, ohne es auszupacken. »Bitte, setzen Sie sich doch!«
Stefanie nahm Platz und betrachtete die Patientin forschend. »Gesund sehen Sie immer noch nicht aus«, stellte sie fest, »aber wenigstens besser als neulich.«
»Wer so viel trinkt wie ich«, erklärte Alida freimütig, »sieht nie richtig gesund aus. Mir scheint, das ist unmöglich.«
»Kann sein«, gab Stefanie zu. »Werden Sie damit aufhören?«
»Mit dem Trinken? Meine Liebe, ganz bestimmt nicht. Können Sie mir nicht eine Flasche Whisky besorgen, Frau Wagner? Dafür stifte ich Ihrem Hotel eine schöne Plastik oder ein modernes Bild – denn Sie persönlich lassen sich ja sicher nicht bestechen.«
»Weder ich persönlich, noch das Hotel«, erklärte Stefanie, nicht im mindesten beleidigt.
»Sie sind schon die Zweite, die mich auflaufen läßt«, murrte Alida. »Ich weiß gar nicht, wo all diese charakterfesten Menschen auf einmal herkommen.«
»Es wäre ja auch noch schöner, wenn Sie in einem Krankenhaus, wo man für Ihre Gesundheit verantwortlich ist, jemanden fänden, der Ihnen Alkohol besorgt, Frau Roth«, sagte Stefanie kopfschüttelnd.
»Was heißt hier, noch schöner?« Alida war jetzt ganz ernst. »Soll ich Ihnen etwas verraten, Frau Wagner? Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich das Gefühl, daß ich vielleicht doch alkoholabhängig bin.«
»Sicher sind Sie das«, erwiderte Stefanie ein wenig zu schnell, was sie aber sofort bereute, als sie das betroffene Gesicht der anderen sah. »Entschuldigung«, murmelte sie, »es steht mir nicht zu, so etwas zu sagen, Frau Roth.«
»Aber es ist Ihre Meinung?«
Stefanie wich dem Blick der anderen nicht aus. »Ja«, sagte sie rundheraus, »es ist meine Meinung. Ich kenne Sie ja nun schon recht lange, wir haben uns gelegentlich unterhalten, und ich…« Sie stockte, weil sie erneut in Gefahr war, etwas zu sagen, das Frau Roth verletzen konnte.
»Bitte, sprechen Sie weiter«, bat Alida. »Ich möchte hören, was Sie zu sagen haben.«
»Es wird Ihnen nicht gefallen«, warnte Stefanie.
»Das muß es ja auch nicht. Ich möchte es trotzdem hören.«
»Es ist mir nicht entgangen, daß Sie jedesmal, wenn Sie bei uns waren, mehr getrunken haben als beim Mal davor«, sagte Stefanie leise. »Ich habe es an den Abrechnungen gesehen, aber auch an Ihrem Gesicht, Frau Roth. Sie bringen sich auf Raten um, und ich glaube, das wissen Sie auch. Wenn ich wüßte, wie ich Sie davon abhalten könnte, würde ich es tun – leider