Stefanie. »Die Bären sind jetzt auf der anderen Seite. Wenn Sie mir nicht helfen, dann mache ich es allein.« Sie stieß ihn beiseite.
Offenbar hatte er nicht mit ihrer Kraft gerechnet, denn er ließ sofort los. Stefanie riß die Tür auf und rannte in das Gehege. Marc lag ihr am nächsten, sie packte ihn unter beiden Armen, aber es wäre ihr wohl nicht gelungen, ihn schnell genug die paar Meter bis zur Tür zu schleifen, wenn sie nicht plötzlich zwei Helfer gehabt hätte. Kaum hatten sie Marc in Sicherheit gebracht, als die beiden Männer zurück zu dem etwas weiter entfernt liegenden Wärter rannten und diesen ebenfalls aus dem Gehege zogen – keine Sekunde zu früh, denn die Eisbären fingen nun wieder an, sich für das Geschehen zu interessieren und kamen eilig näher. Doch die Tür des Geheges wurde rasch geschlossen, bevor sie herangekommen waren.
Stefanie kniete neben Marc Weyrich, dessen Gesicht wächsern aussah und der aus einer großen Wunde an der Brust blutete. Sie preßte ihren Schal darauf, um den Blutverlust in Grenzen zu halten – sie wußte nicht, was sie sonst hätte tun können. Der Wärter schien noch schlimmere Verletzungen davongetragen zu haben – sie konnte vor lauter Blut sein Gesicht nicht erkennen.
Sie bezwang eisern die Übelkeit, die in ihr aufstieg und hoffte, daß bald Hilfe kam. Die Stimmen der Menschen um sie herum rauschten an ihren Ohren vorbei, sie verstand nichts von dem, was sie sagten, bis sie von irgendwoher ganz klar die Worte vernahm: »Der Rettungswagen wird jeden Augenblick hier sein.«
Marcs Augenlider flatterten. Stefanie griff nach seiner Hand und beugte sich ganz nah an sein rechtes Ohr. »Herr Weyrich, ich bin hier, Stefanie Wagner. Hilfe ist unterwegs, hören Sie? Ich frage, ob man Sie in die Kurfürstenklinik bringen kann – machen Sie sich keine Sorgen, dort wird man sich sofort um Sie kümmern.«
Das Zittern seiner Lider ließ nach, er öffnete die Augen jedoch nicht, und so wußte sie nicht, ob er ihre Worte verstanden hatte. Eine halbe Ewigkeit später berührte jemand ihre Schulter und sagte: »Bitte, gehen Sie beiseite.«
Sie sah auf und erkannte, daß der Rettungswagen offenbar eingetroffen war, denn der Mann, der sie angesprochen hatte, war ein Sanitäter. Sie stand auf, doch im selben Augenblick gaben ihre Knie nach, und sie sank dem Mann in die Arme. Nur das Wort »Kurfürstenklinik« brachte sie noch heraus, dann verlor sie das Bewußtsein.
*
»Eisbären?« fragte Adrian entsetzt. »Wie ist das denn passiert, um Himmels willen?«
»Er hat einen Wärter angegriffen bei der Fütterung – und jemand anders hat versucht, den Wärter aus dem Gehege zu holen, da hat der Eisbär noch einmal angegriffen«, erklärte Julia Martensen eilig. »Die beiden Männer sind schwer verletzt, Adrian, außerdem ist noch eine Frau dabei, die einen Schock hat – das ist alles, was ich weiß.«
»Als hätten wir an diesem Tag nicht bereits genug zu tun mit dieser Brandkatastrophe«, sagte Bernd Schäfer, der Julias letzte Worte gehört hatte.
»Du sagst es. Also los, wir bereiten zwei Behandlungskabinen vor«, kommandierte Adrian und wandte sich nun an Schwester Monika. »Moni, wir brauchen Blutkonserven, Kochsalzinfusionen, Antibiotika wegen der möglichen Infektionsgefahr.«
Schwester Monika nickte nur und machte sich umgehend an die Arbeit, während die Ärzte die Behandlungsräume vorbereiteten. Sie hatten nicht lange Zeit, bis die Sanitäter die angekündigten Patienten brachten. Der erste war der schwer verletzte Wärter, dessen Oberkörper ebenso wie die Arme tiefe Wunden aufwiesen, die ihm die mächtigen Tatzen des Eisbären mit den messerscharfen Krallen geschlagen hatten. Auch sein Gesicht sah furchtbar aus, nur um wenige Millimeter hatte die Pranke des Tieres sein rechtes Auge verfehlt.
»Kochsalz, rasch! Und sein Kreislauf braucht Unterstützung«, sagte Adrian. »Wir müssen als erstes die Blutungen stillen. Sobald er zu sich kommt und stabil ist, schicken wir ihn nach oben in den OP – kündige ihn an, Moni.«
Schweigend arbeiteten sie, während die Sanitäter wieder nach draußen rannten, um den zweiten Verletzten hereinzuholen. Als sie mit ihm kamen, rief Adrian: »Nach nebenan bitte, ich komme sofort. Ist er stabil?«
»Ja, einigermaßen«, antwortete einer der Sanitäter. »Aber er hat ebenfalls eine stark blutende Wunde am Oberkörper, die dringend behandelt werden muß.«
»Geh rüber und sieh dir den Mann an, Adrian«, meinte Bernd. »Wir kommen jetzt hier auch allein klar, Julia und ich.«
Julia nickte zustimmend, und Adrian ging in die Nachbarkabine. Fassungslos starrte er dort auf den Patienten.
»Herr Weyrich!« sagte er ungläubig und rief dann laut: »Es ist unser Kollege Weyrich!«
Julia und Bernd machten betroffene Gesichter, fuhren aber in ihrer Arbeit fort, da der verletzte Wärter ihre volle Konzentration verlangte.
»Herr Weyrich!« sagte Adrian nun ganz leise. »Können Sie mich hören?«
Die Lider des anderen flatterten, doch er öffnete die Augen nicht. Stattdessen murmelte er: »… war schon ganz nah dran…«
»Der Mann ist gerettet, Herr Weyrich!« sagt Adrian. »Und Sie sind es auch. Hören Sie? Niemand ist mehr in Gefahr!«
Nun schlug der andere die Augen auf und fragte mühsam: »Wo ist… Frau Wagner?«
Mit einem Schlag fiel Adrian alles wieder ein. Sicher, Marc Weyrich und Stefanie Wagner hatten ja gemeinsam in den Zoo gehen wollen – sie mußte das Unglück also mit angesehen haben. Aber wo war sie?
Laut rief er: »Wo ist die Frau mit dem Schock?«
»Sie sitzt im Warteraum«, antwortete einer der Sanitäter von draußen, »mein Kollege ist noch bei ihr. Sie ist kurz ohnmächtig geworden, aber bald wieder zu sich gekommen. Allerdings ist sie noch ziemlich wackelig auf den Beinen.«
»Ich kümmere mich gleich um sie«, sagte Julia aus der Nachbarkabine. »Unser Patient ist stabil und kann in den OP, ich bin gleich frei.«
»Gut«, murmelte Adrian, der sich fragte, ob es sich bei der Frau mit dem Schock um Stefanie Wagner handelte. Er hätte es gern gewußt, doch nachsehen konnte er nicht, denn Marc Weyrich brauchte dringend seine Hilfe.
»Adrian?« Schwester Monika stand in der Tür. »Bernd bringt den anderen Patienten jetzt nach oben, er kann sofort operiert werden. Aber für Herrn Weyrich haben wir keinen Chirurgen mehr – kannst du das selbst übernehmen?«
Am liebsten hätte Adrian gesagt: Nein, das kann ich nicht, nicht in diesem Fall. Ich kann nicht den Mann operieren, mit dem die Frau glücklich wird, von der ich seit langem vergeblich träume… Aber das dachte er nicht einmal richtig, es huschte höchstens als verworrenes Gedankengebilde durch seinen Kopf. Laut sagte er: »Natürlich, Moni. Bereite alles vor, Herr Weyrich ist gleich soweit.«
»Danke«, murmelte Marc Weyrich.
»Wofür?« fragte Adrian erstaunt.
»Bei Ihnen fühle ich mich sicher.« Nach diesen Worten verlor der Patient erneut das Bewußtsein.
*
Julia erkannte die schöne, überaus blasse Blondine im Wartezimmer sofort. Stefanie Wagner war bereits früher in der Notaufnahme der Kurfürstenklinik gewesen – davon einmal als Patientin. Und Julia erinnerte sich nun auch, daß Adrian Frau Wagner kannte.
Auch Stefanie erkannte Adrians Kollegin. Sie bemühte sich um ein Lächeln, als die Ärztin sie begrüßte und noch einmal ihren Namen sagte.
»Ich erinnere mich an Sie, Frau Dr. Martensen«, sagte sie leise. »Ich bin Stefanie Wagner.«
Julia bedankte sich bei dem Sanitäter, der bis jetzt bei Stefanie geblieben war und sich nun umgehend verabschiedete. »Kommen Sie, Frau Wagner, ich möchte, daß Sie sich hinlegen«, sagte sie besorgt, als sie den kalten Schweiß auf der Stirn der jungen Frau bemerkte. »Sie sollten die Beine hochlagern, und ich wickele Sie erst einmal in eine Decke. Außerdem gebe ich Ihnen vielleicht eine Spritze.«
Sie stützte Stefanie auf dem Weg zu einer der Behandlungskabinen, half ihr dort,