in der Kurfürstenklinik besucht hatte.
»Sie kann sich doch nicht in Luft aufgelöst haben!« tobte Andreas Wingensiefen, der sich mit lauter Fragen seiner Mitarbeiter konfrontiert sah, die er nicht beantworten konnte. Denn wenn Stefanie nicht da war, wandten sich selbstverständlich alle an den Direktor, der ja, jedenfalls theoretisch, für das gesamte Haus verantwortlich war. Aber er konnte niemandem weiterhelfen, und allmählich breitete sich überall Panik aus. Auf Stefanies Handy meldete sich niemand, zahlreiche Nachrichten waren ihr bereits hinterlassen worden, doch bisher hatte sie nicht zurückgerufen.
Irgendwann hatte jemand die rettende Idee, Alida Roth in der Kurfürstenklinik anzurufen und sich zu erkundigen, wann denn Stefanie Wagner sie verlassen habe. Die Idee wurde dem Direktor mitgeteilt, der es für angebracht hielt, daß er selbst die Aufgabe übernahm, mit Frau Roth ein entsprechendes Gespräch zu führen.
Und so bekam Alida den ersten Telefonanruf, seit sie in der Kurfürstenklinik lag. Sie kannte Andreas Wingensiefen kaum und hielt nicht besonders viel von ihm, da sie ihn für einen Wichtigtuer hielt. Aber sie hatte auch nichts gegen ihn, und so beantwortete sie seine Fragen zum Besuch von Stefanie Wagner höflich, jedoch zurückhaltend. Jedenfalls behielt sie die Absicht der jungen Frau, mit Dr. Weyrich den Zoo aufzusuchen – ganz offensichtlich während ihrer Arbeitszeit – für sich. Wenn Stefanie ihrem Chef nichts davon gesagt hatte, dann gab es dafür sicherlich gute Gründe, dachte Alida. Sie gab also die Uhrzeit an, zu der Stefanie sie verlassen hatte und legte dann, nachdem sie die besten Genesungswünsche Andreas Wingensiefens dankend entgegengenommen hatte, auf.
Kurz darauf kehrte Janine zurück, und ein einziger Blick in ihr Gesicht genügte Alida. »Was ist passiert?« fragte sie ruhig.
Die grünen Augen der jungen Ärztin gaben Auskunft über die Qualen, die sie litt. »Ein Eisbär hat ihn angefallen im Zoo«, murmelte sie und berichtete ihrer Patientin dann das Wenige, was sie wußte.
»Und was ist mit Frau Wagner?« fragte Alida sofort, die allmählich Böses ahnte. War auch sie verletzt worden und deshalb nicht ins Hotel zurückgekehrt?
»Das… das weiß ich nicht«, stotterte Janine. »Ich… ich kenne sie ja gar nicht, Frau Roth, und ich war so durcheinander wegen Dr. Weyrich…«
»Nicht weinen!« forderte Alida streng. »Dafür ist jetzt keine Zeit, Frau Dr. Gerold. Sehen Sie zu, daß Sie über beide etwas herausfinden – nun machen Sie schon! Sie wollen doch wissen, wie es Ihrem Doktor geht, und ich will wissen, wie es Frau Wagner geht. Da mir niemand etwas erzählen wird, müssen Sie es herausfinden.«
»Aber ich darf Sie nicht allein lassen«, stammelte Janine, während sie sich tapfer bemühte, die aufsteigenden Tränen hinunterzuschlucken. »Ich… ich bin ganz durcheinander, Frau Roth… er ist schwer verletzt, und ich weiß gar nicht…«
Alida ließ sie nicht ausreden. »Eben, weil Sie nichts wissen, sollen Sie sich ja erkundigen«, sagte sie ruhig. »Gehen Sie in die Notaufnahme und fragen Sie nach Frau Wagner – erklären Sie, daß ich von dem Unglück gehört habe und mir größte Sorgen mache. Das ist doch ein wunderbarer Vorwand, schließlich sind Sie im Augenblick für mich verantwortlich. Klar?«
Janine nickte wie eine Schülerin, die gerade eine schwierige Lektion verstanden hatte.
Zufrieden fuhr Alida fort: »Bei der Gelegenheit können Sie dann auch nach Dr. Weyrich fragen. Na, worauf warten Sie noch? Nun laufen Sie schon los, ich verspreche Ihnen, in der Zwischenzeit keinen Versuch zu unternehmen, mir eine Flasche Whisky zu besorgen. Und kommen Sie möglichst schnell wieder, ich mache mir nämlich wirklich Sorgen um Frau Wagner.«
»Danke«, flüsterte Janine, aber Alida scheuchte sie mit einem fast unwilligen Wedeln ihrer Hand aus dem Zimmer.
»Besser, Frau Wagner?«, fragte Julia lächelnd, als Stefanie aufwachte und ein wenig verwirrt um sich blickte.
»Ja«, antwortete Stefanie und richtete sich auf. »Herr Weyrich – was ist mit ihm?«
»Die Operation ist beendet, es ist alles gut verlaufen«, berichtete Julia. »Auch der Wärter wird überleben, obwohl seine Verletzungen viel schwerer waren als die unseres Kollegen.«
»Gott sei Dank«, flüsterte Stefanie. »Sie können sich nicht vorstellen, was für ein schrecklicher Anblick das war.«
»Ich fürchte, das kann ich mir doch vorstellen«, entgegnete Julia ernst. »Ich weiß nicht, ob Sie von der Brandkatastrophe gehört haben – wir haben heute schon Furchtbares gesehen, das dürfen Sie mir glauben.«
Stefanie nickte, ihr Gesicht nahm einen abwesenden Ausdruck an. Julia fühlte ihr unauffällig den Puls und fragte: »Kann sich heute abend jemand um Sie kümmern, Frau Wagner? Es wäre besser, wenn Sie nicht allein wären, denke ich. Sie hatten einen Schock, und Sie leiden noch immer unter den Auswirkungen...«
»Entschuldigung«, sagte in diesem Augenblick eine atemlose Stimme hinter ihnen.
Julia wandte sich um und erkannte Janine Gerold, der sie die Betreuung von Alida Roth übertragen hatte. »Ja?« fragte sie. »Was gibt’s denn, Frau Gerold?«
»Frau Roth ist ganz beunruhigt Ihretwegen, Frau Wagner«, erklärte Janine, halb zu Julia, halb zu Stefanie gewandt. »Sie hat gehört, was passiert ist und möchte wissen, wie es Ihnen gehr.«
»Wie konnte sie denn von dem Unglück erfahren?«, fragte Julia stirnrunzelnd.
»Jemand hat erzählt, daß Dr. Weyrich von einem Eisbären angegriffen wurde, als die Tür offen stand«, log Janine hastig. »Und weil Frau Roth wußte, daß Frau Wagner mit Dr. Weyrich in den Zoo gegangen ist, hat sie gleich gefragt, ob Frau Wagner auch etwas passiert ist.«
»Ich bin mit dem Schrecken davongekommen«, erklärte Stefanie, »während Dr. Weyrich schwer verletzt worden ist.« Sie schauderte erneut bei der Erinnerung an den Angriff des Eisbären.
»Und wie geht es ihm jetzt?« fragte Janine, die Augen angstvoll auf Julias Gesicht gerichtet.
»Ich habe es gerade Frau Wagner erzählt«, antwortete Julia, der durchaus auffiel, daß die junge Ärztin außergewöhnliches Interesse zeigte. »Die Operation ist beendet, dem Patienten geht es soweit gut – den Patienten vielmehr. Auch der Zustand des verletzten Wärters ist soweit zufriedenstellend.«
Janine gab sich keine Mühe, ihre Erleichterung zu verbergen. Ihre Augen strahlten.
»Frau Roth wird froh sein, das zu hören«, sagte sie.
»Grüßen Sie sie bitte von mir«, bat Stefanie.
»Das mache ich gern«, versprach Janine und verabschiedete sich hastig wieder.
»Sie hat irgendwie Ähnlichkeit mit Frau Roth«, stellte Stefanie fest. »Komisch, das ist mir gar nicht aufgefallen – aber diese Augen...«
»Ja, nicht wahr?« Julia lächelte. Nach allem, was sie hörte vom Zustand der Patientin Roth, war ihre Idee, gerade Janine Gerold zu ihrer Betreuung abzustellen, ein Volltreffer gewesen.
Irgendwo klingelte ein Handy, und Stefanie zuckte zusammen, weil es sie daran erinnerte, daß sie das Hotel vor langer Zeit verlassen, sich seitdem aber dort nicht wieder gemeldet hatte. »Meine Güte«, rief sie. »Ich hätte längst im Hotel anrufen müssen. Die werden sich schon Gedanken machen, was mit mir ist!«
»Ach«, sagte Julia weise, »die werden auch mal ohne Sie zurechtkommen – und wenn nicht, dann schadet es überhaupt nichts, wenn sie endlich feststellen, wie wertvoll Sie für den Betrieb sind.«
»Schön wär’s«, meinte Stefanie und entspannte sich wieder. »Aber Sie haben recht: Sollen sie noch ein Weilchen schmoren! Ich bin immer noch ziemlich müde.«
»Dann schlafen Sie noch ein bißchen«, sagte Julia, deckte Stefanie fürsorglich zu und ging hinaus. An der Tür drehte sie sich noch einmal um, aber die junge Frau war bereits wieder eingeschlafen.
*
Das King’s Palace stand mittlerweile Kopf. Bei seinem Anruf in der Kurfürstenklinik hatte Direktor