wir diese heiße Mauer entlanggingen, die sich jetzt da hinzog, wo früher unsere grüne Hecke unser Märchenreich umschloss, ohne die unermessliche übrige Welt auszuschließen, kam mir ein Gedanke. Nämlich, dass es Leute, die in allen Dingen, großen und kleinen, auf der Stelle Partei nehmen, die Hülle und Fülle gibt, dass aber der Leute, die im wahren Sinne des Wortes neutral zu bleiben vermögen, sehr wenige sind und dass drittens die Namen und Adressen der letzteren überall, mit goldenen Lettern in ein besonderes Buch eingetragen, zum eiligsten öffentlichen Nachschlagen aufzulegen seien. Ich, der ich im Grunde heute so sehr Partei war, gewann aus dieser Mauer melancholisch die nicht mehr umzustoßende Überzeugung, dass mir sowohl in Schloss und Dorf Werden wie auch vor allen Dingen auf dem Steinhof nichts mehr übriggeblieben sei, als mich – vollkommen neutral zu verhalten.
Das hatte ich gewonnen! Ich, dem die Mühe, etwas Verlorenes wiederzugewinnen, erspart worden war, oder besser, der selber sie sich erspart hatte.
»Am sichersten wäre es vielleicht doch gewesen, wenn wir unseren Advokaten von Bodenwerder abgeholt hätten, um mit seiner Hilfe den Eingang in Schloss Werden zu finden«, brummte Ewald. »Nun, gottlob, hier haben sie wenigstens ein Loch gelassen, und sind wir somit drin und – zu Hause angekommen. Begorra, eine schöne Wirtschaft scheint das gewesen zu sein! Meiner Treu, als ich von der Fremde aus die Katze im Sacke kaufte, habe ich doch keine Ahnung davon gehabt, wie ruppig das Vieh sich bei der Okularinspektion ausweisen würde. Sieh nur hin, Langreuter, wie die Halunken gehaust haben! Und ich gebe dir mein Wort darauf, Fritz, dass ich längere Zeit hindurch in der festen Überzeugung gelebt habe, ich hätte das alte Haus und seinen Zubehör zu billig erstanden! Oh, oh, oh!«
Ich konnte auch nichts weiter tun, als in die Seufzer des Freundes betrübt einzustimmen. Kahl und verwildert lag der früher so stattlich schöne Park innerhalb der neuen Mauer vor uns da. Die Alleen waren niedergeschlagen worden, die Gebüsche ausgereutet. Nur um das Schloss selbst standen noch einige der ältesten Bäume aufrecht und hatten uns von ferne die Täuschung gegeben, dass das alte adelige Haus Werden noch aus dem alten vollen Grün aufrage. Es war nichts als eine Fata Morgana gewesen, die aus der fernen Jugendzeit in die schwüle Gegenwart herüberfiel. Die jüngsten Besitzer hatten auf Schloss Werden nur einen Raubbau in jeglicher Hinsicht betrieben und waren zugrunde darauf gegangen in der Sonne wie – der Herr Graf in dem vornehmen Schatten seiner hundertjährigen Linden und Kastanien.
»Da stehen wir!« sagte der irländische Ingenieur grimmig. »Wenn es dir beliebt, so können wir auch weitergehen oder – umkehren. Das letztere wäre mir vielleicht in diesem Augenblick das liebste.«
»Du willst doch wohl nicht jetzt den Mut verlieren?«
»Den Mut wohl nicht, lieber Freund, wohl aber die Lust, meine Rolle weiterzuspielen. Momentan ist mir meine Devil-may-care-Stimmung gründlich ausgetrieben, und ich sehe nach keiner Weltgegend mehr hin die Gelegenheit, mir durch einen mehr oder weniger fragwürdigen Witz aus der Patsche zu helfen. Ich sage dir, ich fühle mich in dieser Minute mindestens um ein Jahrhundert älter als der alte Kasten dort hinter den Kartoffelfeldern, das Haus Werden mit seinen sicherlich zersprungenen und eingeschlagenen Fensterscheiben, seinem Schwamm im Parterre und seinem Wurmfraß im oberen Stock. Ach, Fritz, es ist doch wohl gut, dass Irene Everstein auf dem Steinhofe wohl aufgehoben ist; und ich – ich hätte besser getan, wenn ich fürs erste Schloss Werden hätte links oder rechts liegen lassen und den alten Mann in dem Dorfe und dem Försterhause um seine Ansicht von der Sache gefragt hätte! Was dich anbetrifft, liebster Langreuter, so wird es mir immer klarer, dass du mir kaum von Nutzen bei dieser misslichen Geschichte sein wirst. Nimm mir das nicht übel.«
Ich hatte wahrlich keine Ursache, hier irgend etwas übelzunehmen. Der Freund hatte nur zu sehr recht. Mehr sogar, als er selber zu ahnen imstande war.
Ein altes Weib, das mit einer Sichel in der Hand einige Schritte weiter vorwärts sich aus dem Kraut und Unkraut aufrichtete und dem wir, wie es schien, einen gelinden Schrecken einjagten, gab unseren trübsinnigen Gedankenläufen, wenigstens für einen Augenblick, eine gelegene Ablenkung. Es war sicherlich eine gute Bekannte unserer Jugendjahre; aber wir waren allesamt älter geworden und kannten uns nicht mehr.
Das kümmerliche Mütterchen zog rasch und ängstlich eine hoch mit Grünfutter vollgestopfte Kiepe zu sich heran und hatte unbedingt die größte Lust, ohne sich weiter auf Gruß, Gegengruß und freundschaftliche Unterhaltung einzulassen, Reißaus zu nehmen; aber –
»Halt, Mutter! Hier geblieben, Mrs. Ragtail! Nur auf ein Wort, Mütterchen!« rief der Herr von Schloss Werden. »Gehören Wir zu dem Dorfe oder dort in das graue Haus – Schloss Wackelburg, oder wie es heißt!?«
»Schloss Werden, liebster Herr! Das ist das Schloss. Ach, Jeses, liebste, beste Herren, nur ein bisschen Grünes für die Ziege und fünf lebendige Enkelkinder; es wächst ja alles hier rundum doch nur dem armen Volke und lieben Herrgott in die Hand –«
»Richtig, Mutter! Mich aber soll der Teufel holen, wenn ich Ihr nicht alles gönne«, brummte Ewald Sixtus und fügte gegen mich gerichtet hinzu: »Hätte ich doch nur dasselbe Recht an den Nachlass und die Erbschaft hier!« Und wieder der alten Frau sich zuwendend: »Es kommen wohl manche aus dem Dorfe, um da herum das, was dem lieben Herrgott in und aus der Hand wächst und was auch in Hof und Stall nicht zu niet- und nagelfest ist, abzuholen, he?«
»O du guter Himmel, liebster Herr, ich habe ja gar nichts gesagt«, winselte die Alte. »Fünf lebendige Enkelkinder, und mein Junge, der Vater dazu, ist zu Schaden und Tode gekommen in Koldeweys Steinbruche, und die Mutter hat die Lungensucht mitgenommen, und ich bin mit den fünf Würmern allein übrig. Nur ein bisschen Kraut für die Ziege; denn das Jüngste ist erst dreiviertel Jahre alt, und ich bin an die Sechzig nahe heran. Und sie kommen alle, denn es ist ja kein Herr und Meister da seit Jahren, und der Herr Notar in Bodenwerder, der die Verwaltung hat, kann doch nicht immer dasein und nach dem Rechten sehen. Und wenn Sie auch zu dem Herrn Advokaten aus Bodenwerder gehören und mich vor Gericht ziehen wollen, so habe ich doch nichts gesagt, und den hochseligen Herrn Grafen habe ich auch noch gekannt, und das war ein guter Mensch, so vornehm er war; und ich habe auch zu seinen Zeiten schon das Gras an den Hecken schneiden dürfen, und aus dem vornehmen Schloss hab ich mir keinen Nagel aus der Wand geholt. Und die gnädige Gräfin, die jetzt bei dem – dem Herrn Vetter Just – dem Herrn Everstein auf dem Steinhofe wohnt und der es auch so schlimm in der bösen Welt ergangen ist, wie man sagt, ja, die habe ich, als ich noch eine junge Frau war, aus dem Dorfbache aufgehoben und nass wie eine Katze auf meinem Arme