und Gedanken dazu, so kommt es mir bei besserer Überlegung als das Wahre, dass die wahren Menschen und Weibsleute doch immer das Seltenste in der Welt sind und bleiben. Was zur hohen Jagd gehört, das läuft nicht wie die Hasen im Felde. Übrigens hat mir der Vetter Just da nur Gutes von dir erzählt, Fritzchen Langreuter, und das hat mich wirklich recht gefreut, und wir sprechen wohl noch weiter darüber. Als du hier auf dem Boden mir zwischen den Beinen herumkrochest, deinem Ball und sonstigem Spielwerk nach, da hätte dir keiner an der Nase angesehen, dass wahrhaftig ein Doktor und noch dazu nicht ein bloßer medizinischer, die ich mir doch gottlob niemalen habe an den Leib kommen lassen, in dir steckte. Und nun sage mal, Fritz, ich hoffe doch, du nimmst hier mit uns vorlieb und Quartier; – auf eines da bei dem vornehmen Herrn von Schloss Werden würde ich in dieser Nacht lieber doch nicht allzu feste rechnen. He, oder er will wohl gar auch noch einmal sich in dem alten Bau verklüften, Musjeh Ewald Sixtus? Von Rechts wegen gehört er freilich nicht mehr hinein; aber da fährt das dumme Mädchen schon wieder mit dem Schürzenzipfel nach den Augen, und so will ich denn lieber weiter nichts gesagt haben als: na, Evchen, denn schütte den beiden dummen Jungen eine Streu auf, und vor allen Dingen sorge für’n anständig Abendbrot. Der Vetter Just kann bei Mondschein reiten, den Narren von Engländer da mag ich immer noch nicht recht ansehen, aber der gelehrte Doktor kommt mir selbst bei dieser zunehmenden Dämmerung sozusagen recht abgehungert vor, woran denn wohl hoffentlich nur allein seine Gelehrsamkeit und seine lange Abwesenheit in Berlin schuld ist.«
In diesem Augenblick schüttelte sich der »Narr von Engländer«, das richtige Werdener Kind, der irländische Brückenbauer und Tunnelwühler Ewald Sixtus wie ein – unbotmäßig gewesener Pudel, der seine Prügel weg hat und sich wieder in alter Behaglichkeit und im früheren gemütlich-drolligen Verhältnis zu seiner Umgebung fühlt. Aber es kam noch besser. Wie es zuging, konnte nachher wohl keiner uns genau angeben; aber das Faktum stand fest: mit einem Male hielt der Sohn den Vater im Arme wie eine Braut – ja besser, herzerfreulicher, zärtlicher und weicher und fester als wie solch ein weichliches, hübsches, zärtliches Ding von Mädchen!
Und was das allerbeste war, der alte Waldmensch ließ es sich gefallen und wurde nicht grob oder zierte sich.
»Ewald, mein Junge!« stotterte er leise. »O du Allerweltsschlingel, bist du es denn wirklich und wahrhaftig?… Na, na, schon gut, schon gut! Willst du mich nun auch noch zu einem alten Weibe machen?… Zu allem übrigen?!… So sprich doch du ein Wort dazu, Just Everstein. So sagt ihm doch, ihr anderen alle, dass es mir recht sein soll, wenn er gehandelt hat, wie er es verstand!… Mein Junge, mein lieber Junge, – so bring doch Licht herein, Eva, Mädchen, auf dass man – wir – ich ihn endlich mal wieder voll zu Gesichte kriege!… Von dem alten Kasten, dem Schloss Werden, und von der lieben Gräfin müssen wir ja auch noch bei Lichte reden!… Also ein Sixtus bist du gewesen und geblieben, weil du nichts dafür gekonnt hast?… Mein Junge, mein nichtsnutziger Galgenstrick bist du immer geblieben?… Und Schloss Werden hast du wirklich, und es ist kein dummes Zeug, sondern die reine, volle Wahrheit? Was würde der Herr Graf sagen, wenn er in diesem Augenblick dort wieder auf seinem Platze sitzen würde? Und die Gräfin – Fräulein – Frau Irene? Ewald, sie sitzt ja auf dem Steinhofe bei dem Vetter Just Everstein, was wird sie dazu sagen, dass der Spielkamerad aus der Werdener Försterei die vier leeren Mauern ihres Vaterhauses der letzten Ruinierung abgewonnen hat?«
Der Freund hatte, wie der späteste Leser merken wird, immerfort in die Worte des Greises hineingesprochen; doch Papierverschwendung würde es gewesen sein, wenn ich auch seine bruchstückhaften Eräußerungen hier hätte wiedergeben wollen.
Nun brachte Eva die Lampe, und der Klapptisch wurde nach ewiger Gewohnheit vom Fenster in die Mitte der Stube geschoben, und ein jeder von uns beiden, d. h. Meister Ewald Sixtus und ich, Friedrich Langreuter, saß wieder einmal vor seinem Namen, den er vor zwanzig Jahren in die Platte eingeschnitten hatte. Wir waren allesamt beträchtlich in die Jahre hineingeraten, seit wir zuletzt an diesem Tische so zusammengesessen; aber ein schöneres, frischeres Bild als diesen weißhaarigen Vater Sixtus zwischen seinen beiden Kindern gab es nicht. Neun Uhr schlug die Wanduhr, und bei ihrem Schlag sahen sowohl der irländische Ingenieur wie auch der Berliner Doktor der Weltweisheit auf und atemlos sich um. Wir hatten wahrlich nicht nötig, einander anzustoßen und zum Stillsein aufzufordern, bis die neun schrillen Schläge verhallt waren und das Ding sein Ticktack weiter in die Zeit hinein fortsetzte.
»Es ist reinewegs wunderbar!« seufzte Ewald.
»In diesem Frühjahr hat sie einmal geradeso wie ich auf ihre Pensionierung angetragen«, sagte der Vater Sixtus. »Es ist der Tausendkünstler da, der Vetter Just, der sich ihrer Altersschwäche erbarmt und sie in die Kur genommen hat. Nicht wahr, Just, es hat dich mehr als einen sauren Schweiß- und Angsttropfen gekostet, sie noch einmal auf die Beine zu bringen? Ach, tagelang ist er jeden Tag herübergeritten und hat den Uhrendoktor gespielt, und dass er wiederum ein Meisterstück gemacht hat, das habt ihr beiden anderen soeben mit eigenen Ohren vernommen.«
»Ich habe nichts lieber getan«, meinte der Vetter leise und mit einem scheuen, zärtlichen Seitenblick auf Eva. »Es war ja meine eigene bittere Erfahrung, als ich von der Vagabondage nach Hause, nach dem Steinhofe heimkam und sie mir alles vertragen und verschleppt hatten. Und wenn alles übrige doch nur was Totes ist, dem wir selber unsere Stimme geben müssen, wenn es sprechen soll, so ist es mit so einer Uhr ganz und gar ein anderes, was in alles, was dir passiert von der Wiege an, mit hereinredet. Ich will mit keinem Menschen etwas zu tun haben, der die Stubenuhr aus seines Vaters Hause aus Not verkauft, wenn er vorher noch etwas anderes zu verschleudern hatte. Und wäre ich nicht der Bauer vom Steinhofe, so möchte ich nur ein Uhrmacher sein, aber ein wandernder, der von Dorf zu Dorfe seiner Kunst nachgeht. Mein seliger Vater war ein verschwiegener Mann – Sie wissen das, Herr Oberförster –, aber wenn er den Uhrmacher auf dem Hofe hatte, kam er immer ins Erzählen, und es war immer ein Wunder, wie viel die Familie erlebt hatte, ohne dass weder meine Mutter noch sonst irgendein Mensch auf dem Steinhofe eine Ahnung davon gehabt hatte.«
Der alte Förster kratzte sich lächelnd hinter dem Ohre:
»Und was haben wir getan, Just, während der Tage, wo du neulich den wandernden Uhrmacher hier bei uns gespielt hast? Hier, Evchen, Mädchen, wie haben wir beide hier auf der Försterei uns bei ebenso bewandten Umständen, will sagen, als wir den Uhrmacher im Hause hatten, verhalten?«
Es schien mir, als ob der Vetter Just jetzt verstohlen zu mir herüberschaue; über Evas liebes Gesicht flog es wie ein Erröten, doch verlegen wurde sie nicht. Sie reichte dem Vetter vom Steinhofe unbefangen