den Zähnen auf der Unterlippe und der Falte zwischen den Augenbrauen, mein armer Jugendfreund, stand in diesem Moment vor seinem schwer errungenen Besitz und wusste seine verzauberte Prinzessin ebensowenig zu finden wie der närrische Geiger die seinige unter den Spießbürgern, wohlmeinenden guten Bekannten und den Zigeunern der wackeren Stadt Finkenrode. Die erblindeten Scheiben des Schlosses Werden konnten ihm nur seine eigenen grimmig-ratlosen Mienen widerspiegeln, und er wendete sich, zuckte die Achseln und sagte:
»Dieses nützt zu nichts, lieber Freund. Da hat Sie einen Taler, Witwe Warneke, alte Freundin, damit doch ein Mensch aus der gegenwärtigen Minute sein Vergnügen zieht. Und nun schere Sie sich nach Hause und breite es mit möglichster Raschheit im Dorfe aus: der tolle dumme Junge, der Monsieur Ewald aus der Försterei, sei aus der Fremde heute heimgekommen, sei der Herr von Schloss Werden und habe sich soeben sein Besitztum – von außen besehen. Was uns beide anbetrifft, Fritz, so gehen wir auch wohl weiter, aber etwas langsamer. Was würde ich darum geben, wenn ich jetzt eine bekannte haarige, braune, brave Faust am Kragen fühlte und dazu das alte bekannte Wort vernähme: Auf der Stelle scherst du dich jetzo nach Hause, du Lümmel; dir werde ich sofort wieder mal zeigen, wie der Papst Sixtus der Fünfte an dir gehandelt hätte, wenn du sein Junge gewesen wärest, du heilloser Herumtreiber und Taugenichts, du!«
War auf der einen Seite eine neue Mauer um den früheren Park des Schlosses gezogen, so fanden sich an anderen Stellen niedergetretene und durchbrochene Hecken genug, durch welche man den Ausgang nehmen mochte.
Noch zog sich ziemlich in der alten Weise der Weg gegen das Dorf und die am Eingang desselben gelegene Försterei hin.
Die Witwe hatte sich das Wort Ewalds nicht zum zweiten Mal sagen lassen. Sie bog auf einem Seitenpfade zur Linken ab und war trotz ihres Alters in einem kurzen, keuchenden Trabe uns bald entschwunden, um die Nachricht von einem ihrer hauptsächlichsten Lebenserlebnisse im Dorfe zu verbreiten und ihren Taler als Wahrzeichen im Kreise herumzuweisen. Wir beide standen vor den Hoftorpfosten des Försterhauses, und der Besitzer von Schloss Werden nahm den Hut ab, fuhr mit dem Taschentuche über die Stirn und sagte:
»Es ist doch ein merkwürdig schwüler Sommer.«
Da lag in der Abenddämmerung und der Dämmerung der weitästigen Rüstern das gute Heimathaus. Nur die Bäume wachsen, nicht aber das, was der Mensch erbaut. Letzteres scheint stets niedriger, enger geworden zu sein, wenn man es nach längerer Abwesenheit wiedererblickt. Und man braucht dazu es gar nicht als Kind verlassen zu haben. Auch der Erwachsene geht fort und lässt genau bekannte Stätten hinter sich, und wenn er wiederkehrt, so wundert er sich. Er berührt noch wie früher mit ausgestreckter Hand die Decke über seinem Kopfe; aber die Balken haben sich doch gesenkt, die Wände haben sich doch zusammengezogen. Aber der Wert der Dinge steigt und dehnt sich für den wahren Menschen gerade dann im umgekehrten Verhältnis. Welcher melodische Lärm geht über das klimpernde Getön, welches das alte Klavier in seiner Ecke aus seinem eschenen Gehäuse von sich gibt? Wir dachten auf dem Heimwege über Land und See daran und hatten Lust, uns in alter Weise lustig darüber zu machen, und wir haben in keinem Konzertsaale der Welt Laute vernommen, die uns so an das Herz griffen wie das schrille Klingen dieser Saiten, über die wir endlich, endlich wieder einmal mit den zitternden Fingern greifen dürfen.
Von Verfall, Moder und Ruin soll hier aber nicht die Rede sein. Wie ein behaglicher Greis im Großvaterstuhl rutscht so ein Haus in sich zusammen und lässt allem jungen Pfosten-, Sparren- und Balkenwerk, allem neumodischen Zement und Asphalt rundum gern sein Wesen. Es kündigt keinem Heimchen unter der Schwelle, hinter dem Kachelofen und am Küchenherde oder setzt ihm die Miete in die Höhe. Die Heimchen wohnen sicher bei ihm und warm und wissen’s auch und singen sein Lob, und – ihr Gesang verändert sich uns nie, wir mögen nach Hause kommen, wann wir wollen, früh oder spät, nach einem Tage oder nach einem halben Jahrhundert. Der wächst nicht wie die Bäume, er rüttelt sich nicht in sich zusammen wie die Dächer und die Mauern: er ist derselbe immerdar – Gott sei Dank!
Wir standen und hörten durch die Abendstille die Heimchen von dem braunen, im Schatten versunkenen Hause her. Sonst war alles still; ein krähender Hahn im Dorfe, ein bellender Hund in der Ferne und ein erster Froschlaut vom nahen Mühlenteiche her störten den Frieden durchaus nicht. Wie immer standen alle Fenster und die Tür der Försterei weit offen, und in der einen Fensterbank zwischen den Blumentöpfen die Hauskatze im Halbschlaf und die Hunde auf der Schwelle der Haustür! Aber ein weißes, würdiges Haupt neben, hinter den Rosenstöcken und dem Kater – ein leichtes blaues Rauchwölkchen zwischen dem Weinlaub durch ins Freie hinausziehend! Ich hatte den Geruch jahrelang vergessen, aber ich erkannte ihn beim ersten Blick wieder, wahrlich nicht bloß mit der Nase! Da hebt der braune Hühnerhund den Kopf und der Teckel schlägt an – eine weibliche Gestalt tritt in die Tür des Werdener Försterhauses – die liebe, gute Eva des Vetters Just Everstein! Eva Sixtus in ihrem achtundzwanzigsten Lebensjahre – herzig, voll und reif; und ich – ich ziehe mechanisch ebenfalls den Hut und grüße; eine Bemerkung über die Temperatur mache ich dabei nicht, aber es wird mir ganz seltsam vor den Augen, und ich wundere mich, wie ich eigentlich auf einmal hierher komme; ach, zu der Frage, was ich eigentlich auf einmal hier will, gehören viel klarere Sinne und bedeutend mehr ruhige Überlegungskraft, als ich augenblicklich beisammen habe! Klar ist mir nichts, als dass ich eine weite, weite Reise getan habe, dass hundert Räder unter mir rasselten, dass unheimlich rastlose Schaufeln in ärgerliche Wellen schlugen, dass die Gegend und die Welt und das Leben vorbeigeflogen waren, dass die Plage und die Unlust an Körper und Seele groß waren und der Gewinn und die Befriedigung gering und – dass es keine größere und erstaunlichere Offenbarung gibt als die der Stille im Lärm, des Schweigens im Geschrei und der Ruhe in der Unruhe. Stadtrat in Finkenrode braucht man darum gerade nicht zu werden.
»Sie habe ich auf den ersten Blick wiedererkannt«, ist mir sehr häufig im Leben gesagt worden, und so hatte es eigentlich nichts Überraschendes, dass die Gute, die Liebe auf der Schwelle der Försterei in Werden zuerst mich erkannte und, wie es schien, mit einem leisen Erschrecken zuerst: »Fritz!« rief.
Und ich blieb stehen, wo ich stand; aber der Bruder lief vorwärts, und mit einem ebenso leisen Schrei erhob die Schwester die Hände:
»Ewald!… O Ewald, Ewald!«
Sie trat wohl auch einen Schritt vor, als wolle sie sich auf uns zu stürzen; aber dann blieb sie doch stehen und ließ uns zu sich herankommen. Wie von einem Schwindel ergriffen, hielt sie sich an den treuen, schützenden Pfosten der Tür ihres Vaterhauses,