Kinde das Herz noch schwerer zu machen, monsieur Frédéric?«
»O, bestes Fräulein –«
»Ich bin keines Menschen bestes Fräulein! Wir leben hier nicht auf diesem Steinhofe aux bains. Wir sind hier nicht in Baden-Baden, Homburg oder Aix-la-Chapelle! Wir wohnen hier nicht, um uns zu erholen de nos études und um hineinzuschlafen in den Tag und um Ökonomie zu treiben mit dem Cousin Just. Wir sind hier in großer Angst des Lebens, mein armes Kind mit mir, wie auf einem Steinfelsen im Meer, und um uns her ist nur, wie M. Viktor Hugo sagt in den Orientales: das Meer und stets das Meer, die Welle, stets die Welle! Und wo Länderei – nein, Land ist, da sind für uns nur Ruinen, und es kann kein Mensch und auch nicht Mademoiselle Julie verlangen, dass ich soll haben ein Interesse für die Ökonomie auf diesem Steinhof. Eh!«
Sie hatte sich noch mal gebückt und aus einem ganzen Nest ein fett, grün sich ringelnd Geziefer von einem westfälischen Kohlblatt abgenommen.
»V’là une du paquet!« rief sie mit ihrem unnachahmlichsten Nanziger Klosterakzent, nämlich wenn die jungen Schulschwestern sich vollkommen unter sich allein wussten. Mit spitzigen, dürren Fingern hielt sie das unselige Insekt, und wenn sie einen Basilisken gefangen hätte, so hätte sie mir denselbigen nicht mit stärkerem Grimm, Ekel und Widerwillen, aber auch nicht mit größerer Energie unter die Nase halten können.
»Nur der ganz gewöhnliche, sehr gemeine Kohlweißling, Pieris brassicae, Mademoiselle.«
»Ja, monsieur, nichts weiter als das!«
Das Gewürm flog zu Boden und wurde, fast ehe es daselbst anlangte, vermittelst der Schuhsohle aus der Reihe der Lebendigen weggewischt. Die sœur ignorantine trat mit böse aufgerafften Röcken über die nächsten Kohlköpfe hinweg und hinein in den Gartenweg. Wie eben die Raupe hielt sie jetzt mich, doch glücklicherweise nur am Arm.
»Da war auch die Altesse – die Durchlaucht – o diese Durchlaucht, die auch unser Cousin war und uns besuchte und sehr gut zu uns sprach und auch mit für uns sorgen wollte und – sous cape – unser armes, liebes Kind mit in sein armes, kleines, kleines Grab brachte, welches sehr leicht war und sehr wenig kostete, weil schon der gute Vetter Just, monsieur Just Everstein, das kleine Kind in seinen kleinen Sarg gelegt hatte. Was hat monsieur le prince weiter von sich hören lassen? Nichts hat er von sich hören lassen. Was hat er für uns getan? Nichts hat er für uns getan!«
»Was sollte er auch für uns tun?« fragte eine ruhig traurige Stimme hinter uns. Irene hatte sich uns unbemerkt genähert; es kam nichts weiter von dem, was Mademoiselle Martin auf der guten, gequälten Seele hatte, zum Vorschein, sie ließ auch meinen Arm frei und seufzte nur noch:
»Oh, mon dieu! Nun hab ich mir wieder einmal die Zunge angebrannt!«
Aber Irene hielt nur meine Hand fest; sie stand mit gesenktem Haupt, ohne weiter etwas zu bemerken. Sie hatte keine Heimat, aber sie wusste, wo sie zu Hause war; und (der Vetter Just hatte vollständig recht!) das einfachste war, dass sie hinging, wohin sie gehörte oder – geführt wurde. Sonderbar ist es und bleibt es, dass wir Menschen immer nur im höchsten Notfall auf unser Schicksal zurückgreifen, d. h. davon reden. Wir schämen uns unseres Schicksals, und in das große Geheimnis hinein hängen alle Wurzeln unseres Daseins.
Fünfzehntes Kapitel
Ich sitze da am Fenster in meiner Stube in der großen Stadt Berlin. Über meine Gasse hinweg habe ich die Aussicht in eine andere. Hunderten, ja Tausenden von Menschen, welche die letztere passieren, kann ich ins Gesicht sehen, wenn ihr Weg so führt und wenn es mir Vergnügen macht. Ein Vergnügen macht es mir jedoch selten. Aber eine gewisse Regelmäßigkeit des Verkehrs macht sich auch hier geltend. Es kommt immer zur gegebenen Stunde alles wieder, wie es von seinem Geschick geleitet wird, einerlei ob es sich der Abhängigkeit von demselben schämt oder nicht. So sind mir denn allgemach viele Gestalten und Gesichter vertraut und sozusagen zu unbekannten guten Bekannten geworden; aber nur ein einziges immer heiteres, lachendes, glückliches Gesicht kenne ich darunter, und das ist das eines blinden Knaben, der am Arme seiner Mutter täglich gegen zehn Uhr morgens die Straße hinunter kommt oder geführt wird, um bei einem Musiklehrer in meiner Nachbarschaft eine Unterrichtsstunde im Geigenspiel zu nehmen. An diesen Knaben musste ich an diesem sehr unruhevollen Tage auf dem Steinhofe fortwährend denken, und ich sprach auch zu Irene von ihm im Schatten der Obstbäume des Grasgartens.
»Das Kind ist allmählich ein alter Bekannter von mir geworden. Ich sehe es wachsen und allgemach zum Mann werden. Es wächst jedes Jahr einmal aus seinem Rock und seinen Hosen heraus, aber es schämt sich keines Zustandes. Es lässt sich wachsen –«
»Und bleibt auch als Mann und Greis ein blindes Kind. Das einzige glückliche Gesicht unter Hunderttausenden! Armer Freund, weshalb redest du mir davon? Zum guten Exempel ist solche Heiterkeit doch wohl nicht in die Welt gesetzt! Willst du mir gar zu allen anderen übeln Eigenschaften auch noch den Neid rege machen? Worüber lachst du nun?«
»Nie über dich, arme Freundin; höchstens über dich und meinen braven tapferen Freund und Gespensterseher, den Herrn Ingenieur Sixtus auf Schloss Werden. Übrigens kommt ihr beiden Helden schon einmal vor, und zwar in der Geschichte vom Hörnernen Siegfried in den deutschen Volksbüchern. Man kennt auch eure Namen und gibt sie seit tausend Jahren von Jahrmarkt zu Jahrmarkt weiter. Jorkus und Zivilles heißt ihr da. Mich nennt man einen Gelehrten, und hier nehme ich den Titel an, denn dies ist etwas, was ich in der Tat allgemach aus den Quellen studiert haben muss und (es ist keine Tautologie, liebe Irene!) was ich wirklich weiß. Willst du wissen, wie der Vetter Just, der kein Gelehrter, aber dafür ein weiser Mann ist, sich ausdrückt?«
»Was sagt der?«
»Hasen sind sie alle beide; aber der feigste von beiden ist doch unser guter Freund Ewald Sixtus – auf Schloss Werden.«
»Das ist nicht wahr!« rief die Frau Irene, und aus ihren Augen funkelten alle die alten Blitze, die uns in den Mauern und Gärten zu Werden so oft heimgeleuchtet hatten, wenn wir zwei Jungen es den beiden Mädchen wieder einmal zu toll gemacht hatten. Da sprangen die Neigung, die Liebe, ja die Zärtlichkeit wie gewappnet hervor, und zornig flüsterte Irene Everstein: »Es weiß kein anderer als ich, wie stark Ewald Sixtus ist und welch eine Tapferkeit dazu gehört und welch ein Edelmut, dass er nicht kommt und sein Recht verlangt und sagt: ›Du musst, armes Weib! Du bist in meiner Schuld, Irene, und du gehörst mir, wie – Schloss Werden mir gehört.‹ – Ich habe dir das aber schon gestern auf dem Stein am Wege gesagt, und du – du handelst wahrlich nicht edelmütig an mir, Fritz Langreuter!«
Die Frau weinte und ließ mich stehen. Als sie rasch von mir fortlief, war auch