ablegen konnte. Er war klug, ohne es zu wissen, und so ging er um Schloss Werden herum; er war fest überzeugt, sich zu fürchten, und auf dem Steinhofe wurde man sofort sehr böse und fing an zu weinen, wenn irgendjemand nur im mindesten an seine Herzhaftigkeit rührte und den leisesten Zweifel darob kundgab.
Lose hängen alle Kränze und Gewinste in dieser Welt über den Häuptern der Menschen; auf wohlbedächtig gezimmerten Leitern aber steigt man nicht zu ihnen empor, und die, welche die schönsten Kränze tragen, rühmen nie ihre eigene Kunstfertigkeit und Ausdauer deswegen. Im Gewinn erkennen sie erst recht, welcher linde Hauch, welche aura coelestis ihnen das Glück oder die Erfüllung ihres Wunsches oder das große wirkliche Kunstwerk zuwarf.
Etwas spät fielen die goldenen Äpfel in diesem Falle, aber sie fielen doch noch; und abermals erwies es sich, dass wir in einer Welt unser Dasein führen, in der es ebensowohl der Hauch des Todes wie der des Lebens sein kann, der die Zweige bewegt und schüttelt.
Erst am Mittage, nachdem der Vetter seine Steinfuhre am Tillenbrink wieder aufgerichtet und im Lämmerkampe unter seinem Arbeitsvolk Ordnung gestiftet hatte, bekam ich Irene von neuem zu Gesichte. Dies wird noch einmal ein Kapitel der Wiederholung; ich aber kann wahrhaftig auch diesmal nichts dafür.
Wieder die alte gute Bauernstube des Steinhofes! Wieder der lange nahrhafte Tisch von dem einen Ende derselben bis zum anderen; und wir allesamt daran vor den Tellern und Schüsseln: der Meister, die Knechte, die Mägde und die Gäste!
Und wieder wurde der Vetter herausgerufen, ging mit dem guten behaglichen Lächeln auf dem schweißglänzenden Gesicht und kam nach einer ziemlichen Weile sehr erregt wieder herein. Still setzte er sich von neuem hin, nahm auch den Löffel wieder zur Hand, aber legte ihn doch abermals nieder.
Da jedermann ihn darauf ansah, sagte er zu den Leuten:
»Esst weiter, Kinder.«
»Was ist das denn, Just?« fragte Jungfer Jule Grote angsthaft. »Es war ein Bote von drüben. Um Gott und Jesu willen: es geht doch wohl nicht wiederum den Steinhof an?«
»Nachher, liebe Alte!… Den Steinhof geht es freilich wohl an; aber es lässt ihn diesmal doch aufrecht stehen.«
Da dem Vetter Just der Hunger gänzlich vergangen zu sein schien, so verging er auch seinen Gästen so ziemlich. Doch erst, nachdem das Hofgesinde in Ruhe abgegessen und die Stube verlassen hatte, teilte uns Just Everstein mit, was ihm und uns das Schicksal durch den eiligen Boten von »drüben« hatte wissen lassen.
»Hattest recht, Jule; es war ein Bote aus Werden, und er hatte es sehr eilig. Die Leute ging es aber nichts an, sondern nur mich und – euch. Sie haben heute noch einen heißen Arbeitstag vor sich, und so schickte es sich nicht, sogleich damit herauszufahren. Für mich – für uns ist es wieder einmal ein schwerer Tag geworden. O, es ist schade, schade! Ich hatte noch für so lange, lange auf ihn mitgerechnet zu meinem – zu unserem Glück!«
Bleich und bebend hatte Irene sich erhoben.
»Welch Unglück ist wieder geschehen?… Ewald! Ewald!« rief sie; und der Vetter nahm sanft ihre Hand von seiner Schulter:
»Nein, Liebe!… Es denkt jeder nur immer an das Seinige!… Ewald und Eva haben geschickt – es ist nur der alte Herr, der Abschied nehmen will. Ach, ich denke auch nur an mich! Es ist schade, schade – zu seinem und Evas und zu meinem Glück und Behagen hatte ich noch so lange, lange auf ihn mitgezählt! Da ist der Zettel, welchen der Bote gebracht hat.«
Das von Ewald flüchtig gekritzelte, von dem Vetter im ersten Schreck und der zusammengehaltenen Aufregung arg zusammengeknitterte Blatt ging von Hand zu Hand. Es lautete:
»Den Vater hat heute Morgen, während er seine Holzfäller beaufsichtigte, ein Unfall betroffen. Ein Ast eines stürzenden Baumes hat ihn im Rücken beschädigt und von den Hüften abwärts gelähmt. Er ist bei voller Besinnung und nur zornig auf sich selber. Von mir kann leider nicht die Rede sein. Der Alte sagt nur: ›Dass ich so dumm auch gerade während deines Besuchs sein musste, das ärgert mich noch am meisten!‹ – Jetzt erst weiß ich es, wie fremd ich zu Hause geworden bin. Eva hat dich nötig, Just; also komm zu ihr. Dem alten Herrn wirst du gleichfalls zum besten Trost gereichen.«
Irene hielt jetzt den zerknitterten Zettel; Jule Grote wiegte den Oberkörper hin und her und stöhnte: »O Je! O du mein Je; nun geht auch der weg!« Mademoiselle sah, über den Tisch vorgebeugt, mit angehaltenem Atem auf ihre Herrin, Schülerin und Schutzbefohlene; der Vetter blickte zu mir herüber, seufzte nochmals tief und schwer, strich sich mit der Hand über Stirn und Augen und fragte:
»Was ist deine Meinung, Fritz? So rasch als möglich müssen wir hinüber; aber du weißt, die Pferde sind augenblicklich alle vom Hofe. Das eine Paar wird erst gegen Abend heimkommen, das andere kann ich zwar vom Tillenbrink holen lassen, aber es gehen doch gut anderthalb Stunden drüber hin. Mein Rat ist, wir gehen nach Bodenwerder und nehmen dort eine Extrapost.«
»Fremd zu Hause!« murmelte Irene, aus ihrer Betäubung erwachend. »Wir wollen gleich gehen und den alten Weg nehmen – wie damals, als mein Vater gestorben war.«
Wie in diesem Worte so vieles zu einem Abschluss kam, entging uns in diesem Augenblick vollständig. Wir haben aber alle nachher daran gedacht.
»Ja«, sagte der Vetter Just, »das ist immer noch der Richteweg nach Werden. Der Vater Klaus würde sich auch nicht wundern, wenn du ihm noch einmal in seinen Kahn stiegest.«
»Finden wir denn den noch?« rief ich.
»Es zog ein schlimmes Gewitter damals über den Steinhof, als ihr ihn zuletzt über den Fluss anriefet«, sagte der Vetter. »Ihr bekamet nur die letzten Tropfen auf dem Wege nach Schloss Werden. Es ist wunderlich; aber auch das kann heute wieder geradeso geschehen. Nun, der alte Charon wird uns wohl sicher übers Wasser schaffen. Es hat sich vieles hier bei uns verändert, Doktor; aber diesen Schiffer findest du auch heute noch an seiner Stelle.«
Eine halbe Stunde später befanden wir uns bereits auf dem Richtewege nach Werden, Irene, der Vetter Just Everstein und ich, – ganz wie damals klares, tiefblaues Himmelsgewölbe über uns, doch weißes Sommergewittergewölk hinter uns im Westen. Nun war es, wie der Vetter am Morgen es als das Beste und Wünschenswerteste und dazu als das Einfachste hingestellt hatte, nämlich, dass sie zu ihm gehe. Und einfach und ganz selbstverständlich erschien es auch jedem; es verlor niemand noch ein Wort darüber. Der Tod ist ein mächtiger Rufer und ebnet Wege und macht Pfade glatt, die eben noch durch berghohe Trümmer der Vergangenheit und unüberwindlich heil Gemäuer der gegenwärtigen Stunde versperrt schienen. Aber so hatte der Vetter Just sich den