zur Seite oder nach dem Ziel vor uns hinzuhorchen?…
»Hol über!«
An dieser Stelle noch alles so wie sonst! Dieselben Wasser, dasselbe Ufergebüsch, dieselben heißen, knirschenden Kiesel unter den Füßen. Und drüben aus dem Buschwerk das leichte Rauchwölkchen aus der Hütte des alten Freundes und sein Kahn an dem nämlichen Weidenstrunk. Und nur die Wellen rauschten, sonst kein Ton, kein Laut ringsumher. Wir hatten unseren Ruf mehrmals zu wiederholen.
»Ein wenig taub ist der Alte allmählich wohl geworden«, meinte der Vetter, »aber seine Augen sind für seine Jahre noch merkwürdig scharf. Er ist sicherlich nahe an die achtzig. Guck, Irenes Tuch bringt ihn uns her.«
Wir sahen den Vater Klaus in der Tat jetzt drüben den Uferhang herabkommen. Einen Augenblick stand er zweifelnd und sah zu uns herüber.
»Hol über!«
Wir sahen ihn seinen Nachen ablösen –
»Achtzig Jahre!«
»Und er zwingt die Strömung immer noch«, sagte der Vetter. »Manch ein starker, jüngerer Mann würde bei dieser Arbeit bald müde werden.«
Da war der Kahn und schob sich scharrend mit dem Vorderteil auf den Kies, und –
»Wat kümmt mi denn da?« fragte der Vater Klaus, und auch an dem Wort und heiseren Laut hatte sich im Laufe der Jahre gar nichts verändert. »I, da seh einer, der ganze Steinhof! Ach ja, ich weiß ja schon! Ach ja, der Herr Förster. Der Bote heute Morgen hatte es wieder mal recht eilig – es tut mir recht leid um den Herrn Oberförster. Jaja, da hilft es weiter nichts: steigt ein, gnädige Herrschaft, Frau Gräfin, und der Herr Vetter auch. Ja, aber, aber, wie ist mir denn? Den anderen Herrn da sollte ich doch auch schon kennen?«
»Ein alter und hoffentlich auch heute noch guter Bekannter, Vater«, rief ich, beide harte Hände des greisen Fährmanns ergreifend. »Fritz Langreuter!«
»Richtig!« rief der Alte. »I, das wusste ich doch auch wohl! Dazu habe ich Sie doch wohl oft genug mit dem anderen kleinen Fräulein über die Weser befördert. I, sehen Sie mal! Und nun müssen Sie, mit Erlaubnis, gerade heute zu dieser traurigen Gelegenheit zum ersten Mal wieder in mein Schiff kommen! Ja, wo haben Sie denn die ganzen lieben, langen Jahre gesteckt, wenn ich so frei sein darf?! Dass Sie ein grausamer Gelehrter bei der Weile geworden sind, das habe ich wohl gehört, und ansehen tue ich es Ihnen jetzo auch. Na, das freut mich aber bei allem Leidwesen. Ja, dann steigen Sie auch mal wieder ein, Herr – Fritze, mit Erlaubnis zu sagen. Es wundert Sie wohl ein bisschen, dass Sie mich und die Weser immer noch zwischen Werden und dem Steinhofe an Ort und Stelle finden? Ja, so hat jedes seinen Lauf und sein Bestehen!«
Nun schwammen wir wieder auf dem Wasser, und ich ließ mir noch einmal die warme Sommerflut des Stromes über die Hand fließen. Und ganz wie damals flüsterte mir der alte Schiffs- und Fischersmann zu:
»Jaja, ich weiß es wohl, dass es in Werden nicht gut steht, Herr Langreuter. Aber der Herr Förster hat ja, Gott sei Dank, ein reinliches Blut und ein gutes Gewissen, und wenn er, gegen mich gehalten, auch noch ein ziemlich junger Mensche ist, so ist er doch auch ziemlich bei Jahren, und da ist es immer das beste für die Angehörigen, Vernunft anzunehmen und sich und dem anderen den Abschied nicht schwerer zu machen, als notwendig ist. Wisset ihr, Herr Vetter Everstein und die gnädige junge Frau dazu, wüsste ich nur ganz gewiss, dass mir während meiner Abwesenheit allhier an dieser Stelle kein Schaden und Spitzbubenstreich passierte, so ginge ich wahrhaftig gern mit euch, um mir für demnächst ein gutes Exempel an dem Förster zu nehmen.«
»Da kommt nur dreist mit, Vater Klaus«, meinte Just; »ich stehe für allen Schaden. Wer weiß, welch ein gut Beispiel Ihr uns auf dem Stuhl am Bette geben könnt.«
Aber der Greis schüttelte den Kopf:
»Es geht nicht, und es schickt sich nicht. Seit ich denken kann, ist dies mein Ort, wo ich die Weser, die Schiffe, die Jahreszeit, die Menschen und das Gewölke passieren und bleiben sehe. Es ist nur eine Kabache da im Röhricht, aber doch mein altes festes Nest, und jeder Schritt davon weg ist mir aus der Gewohnheit. Ein alter Kerl bin ich hier geworden, aber als ein ganz anderer Kerl käme ich heute Nacht von Werden nach Hause; aber – holla – seht einmal das Gewölk! Das kommt diesmal doch schneller herauf, als ich gedacht habe! Und hör einer, da probiert der Herr Kantor auch schon seine große Orgel. Na, na, nun rate ich lieber den Herrschaften, dass sie wieder mal ein Stündchen bei mir unterkriechen und das Schlimmste vorüberlassen.«
Es hatte keiner von uns anderen sich umgesehen, doch jetzt taten wir’s, wie angerufen von dem ersten dumpfen Donnerton von Westen her. Was wir für ein langsam zögernd Schleichen genommen hatten, das war raschester, rasendster Flug gewesen. Das Gewitter war da wie das Schicksal, welches uns auf diesen Weg geführt hatte, und wir standen unter dem Druck des einen nicht anders als unter dem des anderen.
»Ihr Mannsvolk kommt mit der Frau nicht weit in den Wald hinein, und dann müsst ihr doch unter der ersten dicken Eiche zu Schauer gehen«, rief der Vater Klaus. »Die gnädigste Gräfin oder Frau Baronin muss es mir nicht übelnehmen, sie ist mir, je länger ich sie ansehe, immer noch wie das Kind und junge Fräulein Komtesse von Schloss Werden, und das alte Kesselchen singt noch auf dem alten Herde, Fräulein Gräfin, und ein frisch Paket Zichorien hab ich auch von Bodenwerder. Sie haben doch sonst schon vorlieb bei mir genommen – ach ja, ein bisschen mehr Kinder waren wir dazumalen wohl noch, und die beiden jungen Leute aus dem Försterhause waren dann auch immer dabei. Ich habe es wohl gehört, dass sie alle währenddem mancherlei erlebt haben in der Welt, aber denken kann ich mir’s eigentlich nicht; denn ich selber habe ja nichts erlebt, von welchem ich viel wüsste, außer dass ich ein bisschen älter geworden bin. Der Regen ist schon da; – nun kommen Sie nur noch mal herein zum Vater Klaus – lange anhalten wird’s jawohl nicht.«
»Ich ginge am liebsten weiter«, sagte Irene. »Ich möchte gern so schnell als möglich zu Eva.«
Das ging nun wohl nicht an. Das Unwetter war da, und schon fegte der Regen in Stößen vom jenseitigen Ufer her über den Fluss. Alle lichten Farben wurden zu einem trüben Grau ausgewischt, das Ufergebüsch und Schilf wie von tausend ärgerlichen Fäusten geschüttelt und nach Osten hin zu Boden gedrückt. Auf das Dach der Fischerhütte rauschte und rasselte es nieder, und wir saßen an dem Tage eine gute Stunde an dem Feuerherde des Vater Klaus, horchten auf den Donner über unseren Köpfen, »warteten das Gewitter ab« und ließen unserem grauen Fährmann und Gastfreund das Wort. Wie er es führte, hätte wohl keiner von uns etwas Besseres, Unterhaltenderes und Zweckdienlicheres zutage fördern können.
»Ich weiß eigentlich gar nicht, wie ich Sie jetzt nennen muss«, wendete er sich an unsere Begleiterin. »Am liebsten hieße ich Sie wie sonst: liebes