Ulrich Thiele

Die politischen Ideen


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selbst über die Verfassung bestimmt. Sie brauchen nur zu wollen wie die Individuen im Naturzustand; auf welche Weise sie auch bestellt worden sind, wie sie sich auch versammeln und beraten, ihr gemeinschaftlicher Wille wird immer als Wille der Nation gelten, sofern nur unverkennbar feststeht (und wie sollte die Nation, die sie beauftragt, das verkennen?), dass sie aufgrund eines außerordentlichen Auftrags der Bevölkerung handeln (170).

      Ausgeschlossen wird erstens eine formlose, d. h. bei Sieyes repräsentationslose Betätigung. Denn es soll der verfassunggebende Wille des empirischen und nicht des hypothetischen Volkes ermittelt werden. Zweitens sei durch die gewählten Verfahren sicherzustellen, dass es der pouvoir constituant des Volkes ist, der sich mittels seiner außerordentlichen Repräsentanten artikuliert. Deren freie Mandatierung schließt nämlich eine funktionale Begrenzung ihrer Kompetenzen sehr wohl ein. Sieyes versteht z. B. unter einer unbeschränkte[n] Vollmacht das Recht der Abgeordneten, nach bestem Vermögen für den Zweck zu arbeiten, für den man beauftragt ist, nicht aber die Vollmacht, alles zu tun (Empfehlung, 225). So dürfen beispielsweise die bereits in Kraft gesetzten positiven Verfassungsnormen nicht ohne besonderes Mandat geändert oder suspendiert werden; andernfalls könnte sich die verfassunggebende Versammlung als permanente superkompetente Diktaturgewalt etablieren, indem sie verfassungsrechtlich (bereits) normierte Kompetenzen der ordentlichen Staatsorgane beliebig aufhebt bzw. sich aneignet, ohne hierzu befugt zu sein. Drittens wird das Gewaltenteilungsprinzip auf das Verhältnis zwischen konstituierenden und konstituierten Befugnissen ausgedehnt. Die Absonderung konstituierender Repräsentationsverfahren soll verhüten, dass außerordentliche Befugnisse von regulären, verfassungsrechtlich in ihrer Funktion limitierten Repräsentanten angeeignet würden. Könnte eine in ihrer Kompetenz verfasste Gewalt die Verfassung modifizieren, geriete sie in einen performativen Selbstwiderspruch, denn sie könnte einen verfassungsrechtlich unbestimmten Gebrauch von ihrer verfassungsrechtlich wohldefinierten Kompetenz machen. Sieyes will mit der legitimationstheoretisch begründeten Lehre von der prozeduralen Zweistufigkeit der Tätigkeit der Organe der konstituierenden Volkssouveränität und der der verfassten Gewalten in erster Linie der Gefahr entgegenwirken, dass verfasste Staatsgewalten das Volk als den verfassunggebenden Souverän neutralisieren, indem sie sich faktisch die Funktion der Verfassungsänderung oder -suspendierung aneignen und damit das System der funktionalen Gewaltenteilung zerstören: [Seh]t ihr denn nicht ein, dass keiner, der bloß Partei in einem Streite ist, die Verfassung antasten darf? Eine an Verfassungsregeln gebundene Körperschaft kann nur nach ihrer Verfassung entscheiden. Eine andere Verfassung kann sie nicht geben (Dritter Stand 171).

      Eine konstituierte Staatsgewalt, die sich anheischig machte, Verfassungsgesetze und damit die kodifizierte Grundlage ihrer Befugnisse eigenmächtig zu ändern, befände sich in einem performativen Selbstwiderspruch, der ihre verfassungsrechtliche Legitimität untergraben würde und der zwangsläufig über kurz oder lang in einer überverfassungsrechtlichen Diktatur der Legislative, Judikative oder Exekutive ‚aufgelöst‘ würde. Insbesondere in den Frühschriften richtet sich Sieyes’ diesbezügliches Misstrauen vorzüglich gegen die Regierung und die Verwaltungsorgane: Sehr viel mehr hat die persönliche Freiheit von den Unternehmungen der Beamten zu befürchten, denen die Ausübung irgendeines Zweiges der öffentlichen Gewalt anvertraut ist. Vereinzelte schlichte Amtsträger, ganze Körperschaften, ja selbst die Regierung in ihrer Gesamtheit können aufhören, die Rechte des Bürgers zu achten. […] Eine gute Verfassung aller öffentlichen Gewalten ist die einzige Gewähr, die die Nationen und die Bürger vor diesem äußersten Unglück bewahren kann (Einleitung, 248). Damit diese Gefahr aber gebannt werden kann, hält es Sieyes für unbedingt erforderlich, dass die positive Verfassung in gesetzlicher Form das Verfahren ihrer Revision regelt: Es gehört übrigens in das erste Kapitel eines Verfassungsentwurfs, die Mittel zur Bildung und Umbildung aller Teile einer Verfassung darzulegen (251).

      Sollten an dieser Stelle noch Zweifel daran bestehen, ob die Theorie des pouvoir constituant eine Gesellschaftsvertragstheorie ist, sei noch eines erwähnt: Sieyes sieht auf allen drei Stufen der repräsentativen Ausübung der Volkssouveränität Diskurse vor, in denen sich der jeweilige Gemeinwille als Schnittmenge der Individualwillen allererst heranbildet. Auch in dieser Hinsicht steht Sieyes’ Lehre vollkommen im Einklang mit kontraktualistischen Legitimitätstheorien des politischen Liberalismus und dem dort vorausgesetzten subjekttheoretischen Individualismus: Die Willen der Einzelnen sind stets dessen [des Bürger-Ganzen] Ursprung und bilden dessen wesentliches Element (Dritter Stand, 78).

      3.4. VERFASSUNGSEVOLUTION

      Eine plausible Alternative zur Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes hat Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) angeboten. Jede Verfassung wird als Manifestation des jeweiligen Volksgeistes aufgefasst, und zwar so, dass die Verfassung den Stand des Lernprozesses über das Wesen rechtlicher Freiheit wiederspiegelt, den ein bestimmtes Volk bislang durchlief (Hegel, Grundlinien, § 274, 440). Damit positioniert Hegel seine eigene evolutionäre Theorie des Verfassungswandels in Gegnerschaft zur Gesellschaftsvertragstheorie im Allgemeinen und zur Theorie der verfassunggebenden Volkssouveränität im Besonderen. Hegels Kardinaleinwand gegen den die Gesellschaftsvertragslehren zielt darauf, dass für diese Art politischen Denkens die Souveränität des Staates undenkbar bleiben muss – ein Einwand, dessen Berechtigung Rousseau sicher nicht bestritten hätte: Wenn der Staat mit der bürgerlichen Gesellschaft verwechselt wird […], so ist das Interesse der Einzelnen als solcher der letzte Zweck, zu welchem sie vereinigt sind, und es folgt hieraus, dass es etwas Beliebiges ist, Mitglied des Staats zu sein (Grundlinien, § 258, 399).

      Zwar gebühre Rousseau (und ihm teilweise folgend Kant) das Verdienst, zuerst das Prinzip des Staatsrechts im souveränen Willen gefunden zu haben; freilich habe er die politische Souveränität noch ausgehend von den einzelnen Willen gedacht, weswegen der im Staat realisierte allgemeine Wille nur immer als gemeinschaftlicher gefasst werden könne, der sich ‚mechanisch‘ aus einzelnen (bzw. vereinzelten) Willen zusammensetze und sich ebenso gut wieder in seine Elemente auflösen könne. Allein indem er den Willen nur in bestimmter Form des einzelnen Willens […] und den allgemeinen Willen […] nur als das Gemeinschaftliche, das aus diesem einzelnen Willen als bewusstem hervorgehe, fasste, so wird die Vereinigung der Einzelnen im Staat zu einem Vertrag, der somit ihre Willkür, Meinung und beliebige, ausdrückliche Einwilligung zur Grundlage hat (§ 258, 400).

      Gegen Rousseau will Hegel demonstrieren, dass ein Gesellschaftsvertrag als (reale oder gedachte) Legitimationsquelle von öffentlichem Recht immer nur mangelhaftes Recht zustandebringen kann. Denn die objektive Geltung der auf diesem Weg erzeugten Rechtsordnung bleibe von der subjektiven Willkür der Herrschaftsunterworfenen abhängig. Wenn aber der Vertrag als mögliche Quelle sowohl des inneren wie des äußeren Staatsrechts ausscheiden soll, so hätte Hegel konsequenterweise auf die Gewalt als den klassischen Modus der einseitigen Stiftung öffentlichen Rechts verweisen können. Zwar finden sich gelegentlich derartige Aussagen. Doch dies scheint nicht Hegels eigentliches Argument gewesen zu sein. Die Frage nach dem Realursprung einer Verfassung soll vielmehr einerseits als rechtsphilosophisch irrelevant und andererseits als legitimationsuntergrabend ausgegrenzt werden. Die Frage als solche sei nämlich geeignet, den Patriotismus der Bürger zu beeinträchtigen: Die Verfassung ist die Grundlage, der Boden, auf dem alles geschieht. Die Verfassung muss daher als eine ewige Grundlage angesehen werden, nicht als ein Gemachtes (Naturrecht, § 134, 190).

      Der Glaube an die Konstruierbarkeit von Verfassungen hatte speziell bei Sieyes ihren rationalistischen Höhepunkt erreicht. Verfassungen sind aber für Hegel keine ‚auf dem Reißbrett‘ zu konstruierenden Kunstwerke, sondern quasiorganische Gebilde, die aus den Sitten der Völker erwachsen. Verfassungen können also nicht ‚gemacht‘ werden. Sie sind vielmehr als ‚Organe der Volksgeister‘ gedacht, die sich mit der Zeit entwickeln können, deren willkürliche Veränderung sich aber verbiete.

      Aus Hegels Sicht untergrabe die nüchtern-prozeduralistische Denkungsart des Franzosen die Legitimität jeder Verfassung: das Gelten einer Verfassung werde zu etwas nur Relativem, der Willkür Überantwortetem: Dagegen sei an der Erkenntnis festzuhalten, dass die Verfassung, obgleich in der Zeit hervorgegangen,