Ulrich Thiele

Die politischen Ideen


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dessen, was gemacht wird, zu betrachten ist (Grundlinien, § 273, 439).

      Gelegentlich tendiert Hegel sogar dazu, auch Sieyes’ Pouvoir-Constituant-Theorie mit der terroristischen Entgleisungsphase der Französischen Revolution in Zusammenhang zu bringen, besonders dort, wo das Prinzip der Volkssouveränität im Allgemeinen problematisiert wird (§§ 279, 301, 317).

      Hegel wertet die Schreckenszeit der Französischen Revolution als Ergebnis eines übersteigerten Fanatismus, der allenfalls ein Abstraktes, aber keine Gliederung hervorgebracht habe und er erklärt diese Tendenz aus einer Übersteigerung des repräsentations- und institutionenfeindlichen Aspektes der Gleichheitsidee: Deswegen hat auch das Volk in der Revolution die Institutionen, die es selbst gemacht hatte, wieder zerstört, weil jede Institution dem abstrakten Selbstbewußtsein der Gleichheit zuwider ist (§ 5, 52.).

      Auch die Volkssouveränität zählt für Hegel zu den ambivalenten Ideen: Zum einen bringe dieser Grundsatz zum Ausdruck, dass die Freiheit bzw. der Wille zum modernen Prinzip des Staats geworden ist. Zum anderen jedoch könne die Losung der Volkssouveränität die verfehlte Meinung hervorrufen, alle staatliche Autorität sei von der Willkür, Meinung und beliebige[n], ausdrückliche[n] Einwilligung der Bürger abhängig. Geschieht dies, dann werde jede institutionelle Verfestigung ihres Gemeinwillens unter Verdacht gestellt. In der Französischen Revolution sei die Idee der Volkssouveränität zur realen Gewalt geworden, was eine Staatsverfassung hervorgebracht habe, die, nach Umsturz alles Bestehenden und Gegebenen, ausschließlich vom Gedanken und nicht mehr von bestehenden Sitten und Lebensformen ausgegangen sei. Der Versuch, von allem Bestehenden abzusehen und der Verfassung nicht das wirkliche, sondern bloß das vermeinte Vernünftige zur Basis geben zu wollen, sei dementsprechend zur fürchterlichsten und grellsten Begebenheit geraten (§ 258, 400), denn Abstraktionen in der Wirklichkeit geltend machen, heißt Wirklichkeit zerstören (Philosophie der Geschichte, 529).

      Dementsprechend sei die politische Lage auch höchst fragil gewesen: Verfassungen seien bedenkenlos geändert, durchbrochen oder suspendiert worden. Auch hätte man Regierungen oder reguläre Parlamente immer wieder durch Staatsstreiche abgesetzt. Dies könne zwar nicht die welthistorische Bedeutung der Revolution schmälern (ebd.), doch müsse man eben auch die Brüchigkeit des französischen Staatsrechts zur Kenntnis nehmen, die aus der Verwirklichung eines abstrakten Gleichheitsideals resultierte: So geht die Bewegung und Unruhe fort (ebd., 535).

      Aus Hegels Perspektive wird die Instabilität des politischen Institutionensystems Frankreichs wesentlich durch Mängel der bisherigen Verfassungen verursacht. Dabei hat er besonders die Systeme der Gewaltenteilung im Blick. Speziell die organisatorische Kompetenzverteilung zwischen Legislative und Exekutive sei bisher unzulänglich geregelt gewesen, mit dem Ergebnis, dass beide Funktionen meistenteils in dichotomer Beziehung zueinander gestanden hätten. So sei die Legislative häufig beherrscht worden von Männer[n] der Prinzipien, die abstrakte Ideale beschworen hätten, statt, wie es erforderlich gewesen wäre, der Exekutive hinreichend präzise gesetzliche Normen vorzugeben und sie damit zum Handeln zu ermächtigen und zu befähigen. Aktivitäten der Regierung bzw. der Verwaltung hätten demgegenüber immer schon unter dem Verdacht gestanden, die Menschen- und Bürgerrechte zu verletzen.

      Das Hauptmanko der revolutionären Politik sieht Hegel darin, dass zwar eine weiter bestimmte Gesetzgebung, eine Organisation der Staatsgewalten und der Behörden der Administration […] als notwendig zugegeben wird. In der politischen Praxis dagegen habe man weder die eine noch die andere Forderung eingelöst. Statt legislative Pflichten (auf der einfachgesetzlichen wie der verfassungsrechtlich-organisatorischen Ebene) zureichend zu erfüllen, habe sich die politische Führungsschicht deklamatorisch auf die Menschen- und Staatsbürgerrechte berufen: Die Staatsgesetzgebung ist für die Männer der Prinzipien im wesentlichen ungefähr mit den […] Droits de l’homme et du citoyen erschöpft. Vor dem Hintergrund dieser pathetisch beschworenen Legitimationsformel der Rechtedeklaration hätte man tendenziell jede Betätigung der Institutionen, welche [in Wahrheit] die öffentliche Ordnung und die wirkliche Freiheit ist, per se als gleichheitswidrig verdächtigt: Gehorsam gegen die Gesetze wird notwendig zugegeben, aber von den Behörden, d. h. von Individuen gefordert, erscheint er der Freiheit zuwider; die Befugnis, zu befehlen, der Unterschied […] des Befehlens und Gehorchens überhaupt, ist gegen die Gleichheit; eine Menge von Menschen kann sich den Titel von Volk geben, und mit Recht, denn das Volk ist diese unbestimmte Menge; von ihm aber sind die Behörden und Beamten, überhaupt die der organisierten Staatsgewalt angehörigen Glieder unterschieden, und sie erscheinen damit in dem Unrecht, aus der Gleichheit herausgetreten zu sein und dem Volke gegenüberzustehen, das in dem unendlichen Vorteil ist, als der souveräne Wille anerkannt zu sein. Dies ist das Extrem von Widersprüchen, in dessen Kreise eine Nation herumgeworfen wird, deren sich diese formellen Kategorien bemächtigt haben (Reformbill, 127).

      Da Hegel nicht nur die unzureichende Gesetzgebung, sondern die mangelnde rechtliche Normierung der öffentlichen Gewalt(en) insgesamt für diesen Zustand verantwortlich macht, kann man folgern, dass er das Missverhältnis zwischen Legislative und Exekutive, nicht allein revolutionärem Enthusiasmus, sondern gravierenden Konstruktionsfehlern der bislang diskutierten, verabschiedeten bzw. in Kraft getretenen Verfassungen zuschreibt. Es hätte nahegelegen, Sieyes als einen der bedeutendsten Architekten der französischen Revolutionsverfassungen für diese Mängel in die Verantwortung zu nehmen.

      Doch weder dessen persönliches Engagement, noch der eminente verfassungspolitische Einfluss speziell seiner frühen Schriften werden in diesem Zusammenhang erwähnt. Obwohl Hegel im Ganzen das übersteigerte Ideal der Volkssouveränität zu den Hauptursachen der instabilen französischen Verfassungsgeschichte zählte und speziell Sieyes’ Schrift über den Dritten Stand gemeinhin als das demokratische Manifest galt, das als Fanal die revolutionären Ereignisse beschleunigt, wenn nicht sogar initiiert hätte, hält sich Hegel in dieser wirkungsgeschichtlichen Frage auffällig bedeckt.

      Meines Wissens erwähnte Hegel nur ein einziges Mal – und dies sehr spät – Sieyes ausdrücklich:

      Bekanntlich hat Sieyes, der den großen Ruf tiefer Einsichten in die Organisation freier Verfassungen hatte, in seinem Plane, den er endlich bei dem Übergang der Direktorialverfassung in die konsularische aus seinem Portefeuille hervorziehen konnte, damit nun Frankreich in den Genuss dieses Resultates der Erfahrung und des gründlichen Nachdenkens gesetzt werde, einen Chef an die Spitze des Staats gestellt, dem der Pomp der Repräsentation nach außen und die Ernennung des obersten Staatsrats und der verantwortlichen Minister wie der weiteren untergeordneten Beamten zustände, so dass die oberste Regierungsgewalt jenem Staatsrat anvertraut werden, der Proclamateur-électeur aber keinen Anteil an derselben haben sollte (117 f.).

      Hegels Bemerkung ist aufschlussreich: Auf den ersten Blick wird Sieyes’ verfassungsrechtliche Kompetenz gelobt, wenn ihm Erfahrung und gründliches Nachdenken zuerkannt werden. Doch lässt Hegel dabei auch durchblicken, dass er auch Sieyes’ Verfassungspläne für ungenügend hält, weil ihnen ein solides rechtsphilosophisches Fundament fehle. Entsprechend wird die ‚Oberflächlichkeit‘ und ‚Abstraktheit‘, die französische Verfassungstheorien und ihre öffentliche Diskussion kennzeichne, mit der analytischen Strenge und Systematik der deutschen Verfassungstheorie konfrontiert, die sich nicht zuletzt durch deutlich größeren politischen Realitätssinn und Praktikabilität sowie entsprechende öffentliche Akzeptanz auszeichne. Ideen, welche die Grundlagen einer reellen Freiheit ausmachen […], die in Frankreich mit vielen weiteren Abstraktionen vermengt und mit den bekannten Gewalttätigkeiten verbunden [waren], [sind] in Deutschland längst zu festen Prinzipien der inneren Überzeugung und der öffentlichen Meinung geworden […] und [haben] die wirkliche, ruhige, allmähliche, gesetzliche Umbildung jener Rechtsverhältnisse bewirkt […], so dass man hier mit den Institutionen der reellen Freiheit schon weit fortgeschritten, mit den wesentlichsten bereits fertig und in ihrem Genusse ist (121).

      Nach Hegels Überzeugung ist die diskontinuierliche französische Verfassungsgeschichte einerseits aus der revolutionären ‚Verwirklichung‘ abstrakter Rechts- und Verfassungsprinzipien zu erklären, während die entsprechende Entwicklung in Deutschland, auch ohne geschriebene Verfassung, als