Ulrich Thiele

Die politischen Ideen


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Gewalt (pouvoir constituant) und verfasster Gewalt (pouvoir constitué) gelten, auch wenn die terminologische Differenzierung noch rund 50 Jahre auf sich warten ließ. Schon Locke kennt nämlich eine Hierarchie von Rechtsnormen und Rechtsnormsetzungsorganen. An der Basis dieser Normsetzungshierarchie können trivialerweise noch keine Staatsorgane existieren. Hier agiert allein die vorpolitische Gesellschaft von Individuen. Locke vermeidet mit dieser zweistufigen Konstruktion der Volkssouveränität die Aporien, die bislang jeder Widerstandslehre eigen waren, die ein Recht auf Rebellion postulierte: Sie konnten nicht vermeiden, neben dem faktischen Souverän noch einen potenziellen zweiten Souverän zu postulieren, der im Konfliktfall neben den regulären Herrscher träte und mit ihm rivalisierte.

      Locke löst dieses Problem, indem er das Volk und nicht den von ihm beauftragten Gesetzgeber zum Eigner aller Souveränität erklärt, so dass nun eine konstituierte von einer konstituierenden Ausübung der Souveränität unterschieden werden kann. Diese zweistufige Souveränitätskonstruktion meidet die Fallstricke eines dualen Modells, das mit einem angenommenen Widerstandsrecht zugleich den Preis der Souveränitätsdiffusion zahlen musste. Bei Locke werden zwei verschiedenrangige Souveränitätsdimensionen unterstellt, die, insofern sie verschiedenen Legitimationsniveaus zugeordnet sind, nicht in Konkurrenz zueinander treten können: Wo immer und wann immer die Kompetenzen übertragende Gewalt auftritt, erlischt im selben Augenblick die Kompetenz jeder stellvertretenden Gewalt.

      3.3. VERFASSUNGGEBENDE GEWALT DES VOLKES

      Die terminologischen Konsequenzen, die diesem zweitstufigen Schema der Volkssouveränität eingeschrieben sind, wurden dann allerdings erst von Emmanuel Joseph Sieyes (1748–1836) gezogen. Bei diesem dritten Typ der Gesellschaftsvertragstheorie, den ich als konstituierenden Kontraktualismus bezeichnen möchte, wird die bei John Locke angedachte Zweistufigkeit der Volkssouveränität organisatorisch und prozedural ausdifferenziert. Hatte schon der Lockesche Gesellschaftsvertrag nicht nur die Funktion, einen Staat (im Sinne eines effektiven Gewaltmonopols) zu begründen, sondern ihn zugleich rechtlich zu normieren, so wird nun diese reflexive Gesetzgebung als Verfassungsgesetzgebung von der einfachen Gesetzgebung kategorial unterschieden: Der Staatsgründungsvertrag ist hier wesentlich ein die Staatsgewalt verrechtlichender Vertrag und daher notwendig ein Staatsverfassungsvertrag. Der idealtypische Vertreter dieser Art Kontraktualismus ist Emmanuel Joseph Sieyes.

      Dieser interne Zusammenhang von Gesellschaftsvertrag und Verfassunggebung wird nirgends deutlicher als in einer wenig beachteten Passage aus dem Pamphlet über den Dritten Stand. Betrachtet man, um ein besonders markantes Beispiel zu nennen, das fünfte Kapitel, dann wird klar: Sieyes’ Theorie des pouvoir constituant knüpft eindeutig an die Tradition des liberalen bzw. liberaldemokratischen Gesellschaftsvertrages an. Neu ist allerdings, dass die Gesellschaftsvertragslehre zugleich in prozeduraler Hinsicht spezifiziert wird:

      Sieyes’ Vertragskonstruktion unterscheidet zunächst zwei Stadien der politischen Einheitsbildung, die der Verfassunggebung vorhergehen: In der ersten Phase konstituiert sich ein gemeinsames Selbstverständnis der Individuen als eine Nation: sie haben alle Rechte einer solchen […]. Diese erste Epoche ist gekennzeichnet durch das Spiel der Einzelwillen. Sie erst schaffen die gesellschaftliche Vereinigung; sie sind der Ursprung aller öffentlichen Gewalt (Dritter Stand, 165).

      Auf der zweiten (Vor-)Stufe der Verfassunggebung beschließen die associés, […] ihrer Verbindung Beständigkeit [zu] verleihen (ebd.). In dieser Phase organisiert sich der nationale Wille in Form einer außerordentlichen, zur Verfassunggebung autorisierten Repräsentation. Dieser besonderen Nationalrepräsentation werden, wie jeder Repräsentation, begrenzte Kompetenzen zur stellvertretenden Ausübung des nationalen Willens übertragen. Nach Sieyes sind allerdings für diesen konstituierenden Akt nicht so viele Vorkehrungen nötig, um Machtmissbrauch zu verhindern, wie bei einer verfassungsmäßigen Legislative erforderlich wären. Denn die außerordentlichen zur Verfassunggebung autorisierten Repräsentanten seien schließlich nur für eine einzige Angelegenheit und für eine begrenzte Zeit abgeordnet (170). Die durch ein eigenständiges Wahlverfahren (172) auf Zeit gebildete verfassunggebende Versammlung beschließt endlich die Verfassung im Sinne von positiven Grundgesetzen, d. h. Verfassungsgesetzen, mittels derer die Organisation und die Funktionen der gesetzgebenden und der ausführenden Körperschaften festgeschrieben werden ( 167).

      Sieyes entwickelt ein dreistufiges Konstituierungsschema, in dem das Volk seine Vertreter zunehmend durch prozedurale und organisatorische Rechtsnormen bindet: In der ersten Epoche hat sie [die Nation] alle Rechte einer Nation, in der zweiten übt sie sie aus, in der dritten lässt sie durch ihre Stellvertreter alles ausführen, was zur Erhaltung und Ordnung der Gemeinschaft nötig ist. Wenn man diese Aufeinanderfolge einfacher Ideen verlässt, fällt man von einer Ungereimtheit in die andere (81).

      In der ersten Epoche beschließt eine Anzahl von Personen in individuellen Willensakten, sich zur Gesellschaft zu vereinigen. Diese ursprüngliche Nation ist das Gesetz selbst. Vor ihr und über ihr gibt es nur das natürliche Recht. In der zweiten Phase vergleichen sich die gesellschaftswilligen Individuen und kommen untereinander überein, einen Staat zu gründen und beschließen in ein und demselben Akt über dessen verfassungsrechtliche Konstruktion (im Sinne der positiven Fixierung der Prinzipien des organisatorischen Aufbaus der öffentlichen Gewalt). Diese den Staat formende Verfassunggebung bzw. verfassunggebende Staatsgründung ist die erste Tat des politisch vereinigten Willens der Individuen.

      Die zu verabschiedende Grundverfassung enthält zwei Gruppen von Verfassungsgesetzen: Die einen dienen der Organisation der gesetzgebenden Versammlung, die anderen der der ‚ausführenden‘ Gewalten. Sieyes betont, dass diese gewaltenteilige Staatsverfassung nicht das Werk einer konstituierten, sondern der konstituierenden Macht ist.

      Zwar ist der pouvoir constituant als Legitimitätsquelle des geltenden Verfassungsrechts permanent wirksam, aber er ist keineswegs permanent aktiv, sondern, so die Schrift über den Dritten Stand, nur für den außerordentlichen Fall erneut zu befragen, dass im Rahmen der geltenden Verfassung eine normale Gesetzgebung unmöglich geworden ist. Falls eine Verfassungsänderung erforderlich wäre, könnte dies legitimerweise nur dadurch geschehen, dass neue représentans extraordinaires der Nation vom Volk gewählt würden. Allein das Volk als dem letzten Ursprung aller Gesetzlichkeit könnte diese neuerliche Aktivität seines pouvoir constituant veranlassen (82).

      Der Clou der Sieyesschen Argumentation besteht darin, aus der Erkenntnis der qualitativen Höherrangigkeit von Verfassungsgesetzen prozedurale Konsequenzen zu ziehen: Die Ausübung der verfassunggebenden Gewalt musste von der der verfassten Gewalten strikt getrennt werden. Zwar ist nach Sieyes die Nation als pouvoir constituant frei in der Wahl ihrer (repräsentativen) Artikulationsmittel: Es wäre sowohl denkbar, dass zur Verfassunggebung andere Delegationsmodi verwendet würden als zur Verfassungsänderung, als auch, dass beide konstituierenden Befugnisse von derselben Körperschaft ausgeübt würden.

      Sieyes Überlegungen bezüglich der Verfahren der Verfassungsänderung zielen darauf, dreierlei Gefahren zu bannen: Die außerordentlichen Stellvertreter erhalten jede neue Gewalt, welche die Nation ihnen zu geben beliebt. Da sich eine große Nation nicht jedesmal, wenn außerordentliche Umstände es vielleicht erfordern, wirklich selbst versammeln kann, muss sie die in solchen Fällen notwendigen Vollmachten außerordentlichen Stellvertretern anvertrauen. […] An die Stelle der Versammlung dieser Nation tritt nun die Körperschaft der außerordentlichen Stellvertreter. Sie bedarf zwar nicht einer umfassenden Vollmacht des Nationalwillens, sondern nur einer besonderen Vollmacht, und auch dies nur in seltenen Fällen; aber sie vertritt die Nation in ihrer Unabhängigkeit von allen Verfassungsformen. Hier sind nicht so viele Vorkehrungen nötig, um Machtmissbrauch zu verhindern; denn jene Stellvertreter sind nur für eine einzige Angelegenheit und für eine begrenzte Zeit abgeordnet. Ich sage nun, dass sie nicht durch die Verfassungsformen gebunden sind, über die sie zu entscheiden haben. 1. Sonst wäre dies ein Widerspruch, denn jene Formen sind unbestimmt; die außerordentlichen Stellvertreter sollen sie ja