zu akzentuieren. Da auch diese sekundäre Interpretation tendenziös ausfallen kann, bleibt die Beurteilung ihrer Plausibilität letztlich dem Leser überlassen. Um dies zu erleichtern, sucht die vorliegende ideengeschichtliche Studie ihre Sicht durch die entsprechenden Originalzitate und deren jeweilige Interpretation zu belegen.
Andererseits kann kein Abriss der politischen Ideengeschichte beanspruchen, einen vollständigen Überblick zu bieten. Wer dies zu unternehmen versuchte, könnte bestenfalls eine hochabstrakte und in ihrer Abstraktion auch wieder problematische Skizze anbieten, die die Entwicklung der politischen Ideen allenfalls in groben Strichen nachzeichnen würde. So lässt sich nicht vermeiden, bestimmte Sachgebiete oder Epochen auf Kosten anderer in den Vordergrund zu stellen.
Man könnte z. B. die Entwicklung der Völkerrechtslehren oder die Geschichte der Menschen- und Bürgerrechtstheorien zum Leitfaden der Darstellung nehmen. Aber auch die Ideengeschichte der politischen Utopien wäre – zumal diese Gattung mittlerweile zu den bedrohten Arten zu rechnen ist – geeignet, die unterschiedlichen Staatskonzeptionen vorzustellen. Denn untereinander sind die Fragen nach der Legitimierbarkeit eines politischen Herrschaftsverbandes, seinem Zweck, seiner Organisation und seinen Beziehungen zu anderen Staaten auf vielfältige Weise ineinander verwoben, so dass immer auch die jeweils komplementären Aspekte der darzustellenden Theorien mitzubehandeln wären. Immer aber wirkt die Auswahl der Gesichtspunkte, unter denen die politische Ideengeschichte rekonstruiert wird, zurück auf den dargestellten Gegenstand.
Die einzig seriöse Lösung dieses methodischen Problems besteht darin, die Auswahlkriterien von vornherein zu benennen, die der jeweiligen Theoriegeschichte zugrunde liegen. In Anlehnung an die bekannte und oft verkannte Hegelsche Formel, nach der das Vernünftige wirklich und das Wirkliche vernünftig ist (Hegel, Grundlinien, 24), nimmt der vorliegende Abriss der politischen Ideengeschichte das derzeitig gültige Verfassungsrecht der Bundesrepublik zum Ausgangspunkt. Dies aus drei Gründen: Zum einen sind die tragenden Prinzipien des Grundgesetzes im Großen und Ganzen dieselben wie die Verfassungsordnungen der anderen westlichen Staaten (bezogen auf die postkommunistischen Staaten Osteuropas trifft dieses nur teilweise zu). Zum anderen haben sich in den grundlegenden Prinzipien des bundesdeutschen Verfassungsrechts die staatsrechtsgeschichtlichen Erfahrungen seit der Neuzeit niedergeschlagen. Das lässt sich insbesondere an der Einbeziehung des Sozialstaatsprinzips ablesen. Dessen Ausgestaltung überantwortet man allerdings vor allem dem Gesetzgeber, womit eine Lehre aus der Weimarer Verfassungskrise gezogen wird, die letztlich dem Nationalsozialismus den Weg bereitete. Schließlich reflektieren sich in Verfassungen des Grundgesetz-Typs die wesentlichen Erkenntnisfortschritte der politischen Philosophie Europas.
Die Verfassungsgrundsätze der bundesdeutschen Rechtsordnung werden in Art. 20 GG aufgezählt: (1) Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat. (2) Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt. (3) Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden. (4) Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.
Zunächst wird die Bundesrepublik Deutschland als ein demokratischer und sozialer Bundesstaat definiert (Art. 20 Abs. 1 GG), womit eine verfassungsrechtliche Verpflichtung des Staates ausgesprochen wird, Ungleichverteilungen des Eigentums und Einkommens jedenfalls nicht in beliebigem Grad zuzulassen; so jedenfalls der Tenor der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Keinesfalls ist hier bloß ein ‚vorsorgender‘ Sozialstaat gemeint, der z. B. mit bildungs- oder familienpolitischen Mitteln zukünftiger Armut vorzubeugen hätte, sondern ebenso der ‚nachsorgende‘ Sozialstaat, der für eingetretene materielle Notlagen zuständig ist.
Anschließend benennt Art. 20 GG das Legitimationsprinzip der Volkssouveränität: Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus […] und wird innerhalb der verfassungsmäßigen Ordnung in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und Rechtsprechung ausgeübt. Das heißt zunächst, dass Parlamentswahlen nur eine Artikulationsart der Volkssouveränität darstellen, denn sonst wären sowohl die Präambel als auch Art. 146 GG sinnlos. In beiden Fällen wird schließlich die verfassungsändernde bzw. verfassunggebende Gewalt des Volkes von der Volksouveränität unterschieden, wie sie sich im Rahmen der Konstitution äußert. Außerdem hat der Verfassunggeber mit dem Zusatz Abstimmungen mindestens die rechtliche Möglichkeit zur Ergänzung der parlamentarischen Gesetzgebung um Plebiszite offen gehalten.
Indem die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung […] an Gesetz und Recht gebunden werden, ist nicht nur Gewaltenteilung im Allgemeinen gefordert, sondern eine hierarchische Version der Gewaltenteilung, die alle Rechtsetzungskompetenzen der Verwaltung den Vorgaben des demokratischen Gesetzgebers unterstellt. Schließlich wird ein Widerstandsrecht des Volkes gegen etwaigen Missbrauch durch die beauftragten Stellvertretungsorgane festgeschrieben, worunter offensichtlich auch der parlamentarische Gesetzgeber fallen würde. Liest man das nicht unproblematische Postulat vom Widerstandsrecht aus der Perspektive der Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes (Präambel GG), dann ergibt sich folgender Befund: Dem Menschenwürdegrundsatz des Art. 1 GG, der alle staatliche Gewalt verpflichtet, die Würde des Menschen zu achten und zu schützen, entsprechen genau vier Verfassungsgrundsätze, die teils formal-organisatorische, teils materiale Prinzipen für die Setzung und Durchsetzung staatlicher Normen bezeichnen: Das Prinzip der verfassunggebenden Gewalt des Volkes, das Demokratieprinzip, das Prinzip des gewaltenteiligen Rechtsstaats und das Sozialstaatsprinzip.
Diese komplementären Verfassungsgrundsätze, die aus vielfältigen Gründen nicht leichtfertig um weitere ergänzt werden sollten, wird für unsere ideengeschichtliche Skizze das Grundgerüst liefern. Dieses Auswahlkriterium hat nämlich einen entscheidenden Vorzug im Vergleich mit einer chronologischen Periodisierung: Es ist nicht neutral, sondern legt den normativen Standort des Autors offen. Die genannten vier Verfassungsgrundsätze bilden einerseits das Gerüst des bundesdeutschen Verfassungsrechts. Andererseits sollen sie auch das sachliche Strukturierungsschema für die vorliegende Ideengeschichte abgeben. Vorausgesetzt wird dabei, dass die Überlegungen der Hauptakteure der politischen Theoriegeschichte objektiv Eingang in die Endredaktion des Grundgesetzes gefunden haben.
2. GESCHICHTE DES STAATSBEGRIFFS
Carl Schmitt ist darin zuzustimmen, dass die Ära des Staates in der zweiten Hälfte des 16. Jh. mit der Durchsetzung des Souveränitätskonzepts beginnt: Der politische, d. h. mehr oder minder säkulare Staat ist die Antwort auf den konfessionellen Bürgerkrieg, der dazu führte, dass die christlich-universale Vorstellungswelt ihre Integrationsfunktion einbüßte. Der moderne Staat im Sinne einer territorial geschlossenen Einheit (Schmitt, Staat, 381) entspringt einer doppelten Abgrenzung gegen mittelalterliche Ordnungskonzepte: Nach innen werden sämtliche potestates indirectae den Entscheidungen des einen Souveräns unterworfen und nach außen tritt an die Stelle des von Papst und Kaiser repräsentierten göttlichen ordo ein pluriversum gleichrangiger, d. h. gleichsouveräner Mächte.
Eine Pointe der Argumentation Carl Schmitts besteht darin, dass man von der Tatsache der historischen Kontextgebundenheit der Genese des Staates ausgehend, auf dessen zeitliche Begrenztheit schließen kann: Die geschichtsblinde, naive Erhebung des Staatsbegriffs zum allgemeinen Normalbegriff der politischen Organisationsform aller Zeiten und Völker wird wahrscheinlich mit dem Zeitalter der Staatlichkeit selbst bald ein Ende nehmen (ebd., 376).
Freilich besagt die historische Verortung der Entstehung von Staaten noch nichts über die kausalen Faktoren, die dies ermöglichen. Wie Max Weber plausibel macht, ist es die zutiefst revolutionäre Gewalt der vordringenden Marktwirtschaft, die die monopolistischen Verbände ökonomisch sprengt, ihre Mitglieder zu Marktinteressenten macht, indem er ihnen die Basis jener Interessengemeinschaft [entzieht], auf welcher auch ihre legitime Gewaltsamkeit sich entfaltet hatte. Mit zunehmender Befriedung und Erweiterung des Markts parallel geht daher auch 1. jene Monopolisierung legitimer