Ulrich Thiele

Die politischen Ideen


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Gewalt, und zugleich 2. jene Rationalisierung der Regeln für deren Anwendung, welche in dem Begriff der legitimen Rechtsordnung ihren Abschluss finden (Weber 1980, 519). Es ist demnach die rationalisierende Gewalt des Marktes, auf dem die mittelalterlichen Stände und Zünfte ökonomisch nicht bestehen können. An deren Stelle treten schließlich ‚freie‘ Arbeitskräfte und Kapitalbesitzer auf der einen Seite und ein zentralisierter, durch formelle Regeln gesteuerter Herrschaftsverband auf der anderen Seite.

      Eine knappe und überaus treffende Definition lautet dementsprechend: Der Staat ist ein Anstaltsbetrieb, der die Herrschaft seines Verwaltungsstabes und seiner Ordnungen für ein Gebiet in Anspruch nimmt und gewaltsam garantiert und dessen Verwaltungs- und Rechtsordnung […] durch Satzungen abänderbar ist (29 f.).

      Eine weniger anspruchsvolle, aber deswegen nicht unsachgemäße Definition verwendet den Ausdruck Staat als Synonym für einen Zusammenschluss von Menschen, die bezwecken, ihr physisches Überleben zu sichern, ihr materielles Lebens zu verbessern und schließlich ihr Leben insgesamt nach sittlichen Prinzipien gestalten wollen. Dieser Minimalbegriff des Staates entstammt einer Verdeutschung der sehr verschiedenen politischen Ordnungsbegriffe wie polis bzw. politeia [Aristoteles (384–322 v. Chr.), Platon (427–347 v. Chr.) oder res publica (Cicero (106–43 v. Chr.)]. Entscheidend ist dabei, dass die Ordnungen der Gesellschaft und des Politischen ebenso wenig getrennt gedacht wurden, wie die Moralität und die Legalität des individuellen Handelns.

      Auch wenn der Ausdruck polis ursprünglich auf die jeweilige Stadt bezogen war, so wandelte sich seine Bedeutung im 6. und 5. Jh. v. Chr. doch gravierend. Nun bezeichnet der Begriff ein politisches Gemeinwesen, d. h. einen kollektiv verantwortlichen, zu verbindlicher Entscheidung im Inneren und gemeinsamem Handeln nach außen befähigten Verband. Seine Ordnung beruht auf Recht und Gesetz (worunter jedoch keinesfalls allein positivrechtliche Normen zu verstehen sind, sondern ebenso und vor allem kollektiv verbindliche Tugendnormen). Mit einem politischen Staat, wie er sich in der Neuzeit entwickelte, ist die Polis aber schon deswegen nicht gleichzusetzen, weil letztere allemal unter dem Schutz einer Gottheit stand, die ihren Bestand verbürgte. Dementsprechend konstituierte sich die Polis geradezu im gemeinsamen religiösen Kultus. Statt mit den Staats- bzw. Stadtmauern identifiziert zu werden, konstituiert sich die polis nun aus den Mitgliedern des Verbandes, den Bürgern, denen zugleich die Verteidigung gegen äußere Feinde zukommt. Die Hauptgefahr im Inneren besteht in der stets drohenden Spaltung der Bürgerschaft, die sich nicht selten bis zum Bürgerkrieg steigerte. Deswegen hing die Stabilität der Polis vorzüglich von der tugendhaften Parteinahme der Bürger für ihr Gemeinwesen, aber auch von ihrer Freundschaft (Platon, Protagoras, 322 c) und Eintracht (Demokrit, Xenophon) untereinander ab. So beruht nach Platon ein gerechter und wohlgeordneter Staat darauf, dass jeder Stand das ihm Gemäße tut, so dass in der Polis zugleich die Einheit der Bürger erscheint, insofern in ihr alle exklusiven Interessen ebenso aufgehoben sind, wie es bei der menschlichen Seele bzw. beim gesunden menschlichen Körper der Fall ist (Platon, Politeia, 434 c–e; 435 aff.; 462 c/d).

      Hinsichtlich der Motive, um deretwillen die Individuen auf ihre ursprüngliche ‚wilde Freiheit‘ verzichten und sich zu einem Gemeinwesen zusammenschließen, herrscht bei den klassischen Autoren im wesentlichen Übereinstimmung: Nach Platon hätten sich die ursprünglich isoliert lebenden Menschen zunächst zum Schutz gegen die wilden Tiere in poleis, d. h. befestigten Siedlungen zusammengeschlossen (Platon, Protagoras, 322 b 1 f.). Platons Theorie der Polis-Genese geht demnach von der Prämisse aus, dass der Mensch ein Mängelwesen ist (Platon, Politeia, 369 b–372 c.)

      Auch Aristoteles sieht das Hauptmotiv für die Gründung einer Polis in der Sicherung des Lebens (Aristoteles, Politik, 1278 b 18 ff.), jedoch soll dies mit der Annahme verträglich sein, nach der der Mensch von Natur auf das Leben in der politischen Gemeinschaft (koinonia politike) hin angelegt sei (zoon politikon). Die Synthese beider Teilannahmen gelingt Aristoteles mit der Formel, dass die Polis um des (Über-)Lebens willen entstanden sei, jedoch um des guten Lebens willen bestehe (ebd. 1252 b 29 f.; vgl. 1278 b 24).

      Etwa seit der zweiten Hälfte des 5. Jh. kommt der neue Begriff politeia in Umlauf. Er bezeichnet die Bürgerschaft im vierfachen Sinn: 1. meint er die Gesamtmenge der Vollbürger, 2. das Bürgerrecht und 3. das bürgerliche Leben im Sinne politischer Partizipation und schließlich 4. die politische Ordnung im Sinne von Verfassung. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass nach damaligem Verständnis Bürgerschaft und Verfassung nahezu bedeutungsgleiche Ausdrücke waren, so dass man eher sagen könnte, dass die Bürgerschaft die Verfassung ist, als dass sie sie hätte (Ritter u. a., Bd. 7, 1989, 1034 f.).

      Zwar wäre es müßig, unseren modernen Verfassungsbegriff im Sinne eines Systems präskriptiver All-Sätze, die insbesondere die Organisation der öffentlichen Gewalt regelten und den einzelnen Staatsorganen spezifische Kompetenzen und Kompetenzgrenzen normativ zuschrieben, in der griechischen Antike vorfinden zu wollen. Dennoch trifft es zu, dass der Begriff der politeia u. a. die Ordnung (táxis) der Polis in Hinblick auf die Einrichtung und Verteilung der Ämter bezeichnet, insbesondere die Vergabe des höchsten und wichtigsten von allen. Dies ist nämlich stets das politeuma der Stadt, wobei unter politeuma das Herrschaftssubjekt einer Polis verstanden wird (Aristoteles, Politik, 1278 b 8 ff.; 1279 a 25 ff.), das aber nur die Bürgerschaft (politeia) (1278 b 8 ff.) sein kann, genauer: die Gesamtheit der Vollbürger, die in allen griechischen Ordnungen die letztentscheidende Körperschaft war, da Repräsentation außerhalb des Vorstellbaren lag. Mit dem Begriff der politeia findet der Verfassungsbegriff im weiteren Sinne Eingang in die politische Ideengeschichte, da er die politische Ordnung im Ganzen wie die Bürgerschaft als deren oberstes Organ bezeichnet.

      Schließlich trat in der römischen Antike (etwa ab dem 3. und 2. Jh. v. Chr.) der Begriff der res publica das Erbe des Ausdrucks politeia an, der seinerseits auf den neuzeitlichen Begriff der Republik verweist (engl. republic; frz. république; ital. repubblica; span. república). Der Ausdruck stand für die Angelegenheiten und Interessen des Volkes (populus), d. h. der in den Komitien zusammentretenden und politisch handelnden Bürger (cives). Für den Ursprung des modernen Staatsbegriffes ist es bedeutsam, dass res publica als Gegenbegriff zu res privata fungierte, womit das Sonderinteresse eines jeden einzelnen Bürgers gemeint war. Noch wichtiger ist allerdings, dass der Ausdruck res publica häufig in Verbindung mit status vorkam, vor allem in der Wendung status rei publicae. Status hatte die Bedeutung fester Stand, Wohlstand, Nutzen, Heil, so z. B. bei Ulpian (um 170–228), von dem die Definition stammt: Das öffentliche Recht bezieht sich auf das Wohlergehen der römischen Sache [d. h. der res publica], das Privatrecht auf den Nutzen eines jeden einzelnen: Die Angelegenheiten sind nämlich teils von öffentlichem, teils von privatem Nutzen (Ulpian, Digestae, 1. 1. 1. 2). Seit Ulpian steht der Ausdruck status rei publicae bzw. status rei Romanae nicht für einen beliebigen Zustand des populus, sondern ausschließlich für dessen gute innere und äußere Verfassung. Dies änderte sich in der Kaiserzeit: Einerseits verstand man unter res publica nach wie vor Gemeinwohl, Gemeinnutz und Interesse des Volkes, doch anderseits trat nun die Bedeutung Verwaltung bzw. Behörden hinzu, d. h. man meinte jetzt zusätzlich die organisatorische Einheit des Herrschaftsapparates. Damit war bereits der erste Schritt in Richtung auf den neuzeitlichen Staatsbegriff getan.

      Augustinus’ (354–430) Schrift De Civitate Dei (Über den Gottesstaat) entstand in den Jahren zwischen 413 und 426. Ihr zweiter Teil (Bücher XI bis XXII) enthält eine spekulativtheologische Geschichtsdeutung, die von der Annahme ausgeht, dem Weltstaat (civitas terrena) stünde der jenseitige Gottesstaat gegenüber. Während die Anhänger des Gottesstaates von der selbstlosen Gottesliebe (amor dei) beseelt seien, die sich zur Demut bzw. Selbstverachtung steigern könne, würden die Anhänger des Weltstaates durch Selbstliebe (amor sui) angetrieben, deren Extrem in der Gottesverachtung erreicht würde (XIV, 13). Institutionelle Realität besäßen die beiden ideellen ‚Reiche‘ im Staat