ihn für ungeeignet zu solchen Handreichungen gehalten und fand nun das Gegenteil. Die soldatische Erziehung zum Zugreifen und Ausdauern hatte sich segensreich erwiesen. Der sonst so Zerstreute, Gleichgültige war unermüdlich in kleinen Aufmerksamkeiten, die Erleichterung schafften, und erriet mit frauenhaftem Einfühlen alle meine Bedürfnisse.
Noch im Hospiz brachte er die Sterbeszene Alexanders zu Papier, wie sie ihm bruchstückweise während des Steigens aufgegangen war, und ließ mich nach seiner Art gleich daran teilhaben. Sie passte in ihrer Großheit zu dem herzerweiternden Blick, der sich uns droben aufgetan hatte. Ich erinnere mich noch, dass dem sterbenden Welteroberer der tote Brahmane wieder erschien mit einem Häufchen Asche in der Hand, die ungesuchte Symbolik, die Goethe als ein Höchstes von der dramatischen Dichtung forderte.
Die Heimfahrt war kein Vergnügen für den schmerzenden Fuß, aber für die Freundschaft war sie ein Triumph: der Zerschundene führte einen Genesenden nach Hause. Die innere Verkrampfung hatte sich gelöst und sogar das Gesicht von seiner maskenhaften Starrheit entbunden.
Allein die Dämonen, die Unheil wollten, waren inzwischen am Werke gewesen, und es ging wie mit einem rinnenden Sack, der, während man ihn auf einer Seite stopfen will, an der anderen aufbricht. Als wir in Zürich anlangten, rang Selma mit dem Tode.
Sie hatte am Abend nach unserer Abreise einen ihrer größten Siege gefeiert. Man gab ein heute vergessenes Rührstück französischer Mache, das damals alle Spießbürger der alten und neuen Welt entzückte. Nach dem Kunstwert fragte sie nicht, sie spielte sich selber. Ein leidenschaftlicher Ehezwist, eine Frau, die sich für den Gatten, der sie misskennt, opfern will, mehr brauchte sie nicht, um ihr Unmittelbarstes und Eigenstes zu geben und in die Rolle eine innere Wahrheit zu legen, von der der Verfasser nichts wusste. Sie muss an diesem Abend hinreißend schön gewesen sein. Die Erregung des Spiels und des Triumphs gab ihr allen Jugendzauber wieder, veredelt und verfeinert durch einen Zug heimlichen Leides, der zum Stück zu gehören schien. In einem Zwischenakt, als Angela, die trotz der dürftigen Fabel tief ergriffen war, sie im Künstlerzimmer beglückwünschte, wurde ein wunderbares Blumengebinde hereingebracht mit einer Besuchskarte: Dr. Heinrich Sommer, Assistenzarzt an, ich weiß nicht mehr welcher Berliner Klinik.
Selma stieß einen Jubelruf aus: Mein alter Freund und Verehrer! Wie mich das freut! Warum zeigt er sich nicht selber?
Sie hatte noch nicht ausgesprochen, so schob sich ein blatternarbiges Gesicht zur Tür herein, und Angela, die dem Ausgang zunächst stand, begrüßte ihren ehemaligen Vorgesetzten aus dem Lazarett La Gloriette.
Selma eilte ihm entgegen und schüttelte ihm mit voller Herzlichkeit beide Hände.
Ich komme gerade von der Bahn, sagte er, aber als ich an den Anschlagsäulen las, dass Sie heute Abend auftreten, ging ich nur schnell in den Gasthof, um die Kleider zu wechseln und fuhr dann gleich hierher. Diesen Glücksfall hätte ich um alles in der Welt nicht versäumen mögen.
Selma spielte weiter und gab sich immer glühender und hinreißender aus. Die Gegenwart dieses Zeugen ihres Jugendglanzes entband alles verhaltene Lebensgefühl in ihr.
Herrlich, herrlich, sagte Sommer immer aufs neue zu Angela und fiel durch die Stärke seines Beifallklatschens allgemein auf. Nach jedem Aktschluss drängte er sich aufs neue an die Künstlerin heran.
Das geht über die Stuttgarter Tage, sagte er ihr. Sie haben die Selma überselmat. Ganz Berlin hat keine Künstlerin, die sich neben Sie stellen dürfte.
Selma strahlte. Die Bewunderung des alten Verehrers hob sie für einen Abend aus allem Leid ihrer Ehe hinaus, machte sie wieder jung und selig. Dass der Ankömmling mit keinem Wort nach ihrem Gatten fragte, muss ihr gar nicht aufgefallen sein.
Sommer wünschte nach Theaterschluss die Damen zum Abendbrot in ein bekanntes Weinhaus zu führen. Aber Angela kam zuvor, indem sie ihn und Selma zu sich in den Gasthof einlud. Beide nahmen mit Freuden an, und Selma wiegte sich den ganzen Abend entzückt in den gemeinsamen Erinnerungen an die Glanzzeit ihrer Jugend, die Sommer vor ihr ausbreitete, an das liebe Schwabenland, wo man sie so warm gehalten hatte. Dann begleitete Sommer sie nach Hause.
Angela, die ein starkes Vorgefühl für nahende Ereignisse besaß, verbrachte die Nacht voll Unruhe, so gingen ihr in der Erinnerung die Blicke nach, mit denen ihr Gast jeder Bewegung der Künstlerin gefolgt war. Der persönliche Charakter dieses Mannes, den sie nur als pflichttreuen Arzt kennengelernt hatte, war ihr durch meine und Kunos Andeutungen verdächtig geworden. Wenn sie ihn auch keiner Niedertracht fähig hielt, so war ihr doch nicht wohl dabei, ihn unter vier Augen mit Selma zu wissen.
Diese hatte sich schon beim Abendessen, als von ihrer heutigen Rolle die Rede war, Andeutungen entschlüpfen lassen, die man auf ein gestörtes Eheverhältnis beziehen konnte, und Angela war nur immer bestrebt gewesen, den Sinn ihrer Worte ins Allgemeine umzudeuten und abzulenken. Auf dem Nachhauseweg mochte sie dann in ihrer hemmungslosen Art gegen den Mann, den sie für den ergebenen Freund ihres Gatten hielt, noch deutlicher geworden sein und er diese Offenherzigkeit für ein Entgegenkommen im Sinn seiner alten, längst begrabenen Wünsche und Hoffnungen genommen haben. Statt der beabsichtigten Weiterreise machte er ein Wiedersehen für den nächsten Tag aus, und Selmas Kindersinn ging mit Entzücken auf seinen Vorschlag einer Wagenfahrt am Seeufer mit anschließender Einkehr in einer beliebten Gaststätte draußen im Grünen ein. Vielleicht spielte ein gewisser heimlicher Trotz gegen Gustav, für den es keine Erholung als in Männergesellschaft gab, dabei mit, denn ich bin gewiss – und die tiefer blickende Angela war es gleichfalls –, dass die Ärmste niemals eine Hinneigung für Sommer empfunden hat, sie ließ sich einfach vom Augenblick tragen.
Angela aber sorgte sich, ob Sommer nichts gegen Gustav im Schilde führe und ob er wirklich abgereist sei. Sie wollte gleich am Morgen zu Selma fahren, wurde aber durch den Besuch einer Jugendbekannten, die zufällig von ihrer Anwesenheit gehört hatte, aufgehalten. Als sie nach einem Gang mit diesem bei der Künstlerin vorsprach, hieß es, die gnädige Frau sei mit einem fremden Herrn weggefahren. Betreten kehrte sie in den Gasthof zurück und hörte dort, dass die zwei sie hatten abholen wollen; es war die Bedingung, an die Selma ihr Mitfahren geknüpft hatte. Da die dritte nicht zu haben war, konnte sie nicht mehr umkehren und setzte ihre Fahrt allein mit Sommer fort.
Was an dem unseligen Tage zwischen den Beiden vorging,