Isolde Kurz

Gesammelte Werke


Скачать книгу

Ein­fluss den im­mer noch lei­den­schaft­lich ge­lieb­ten Mann ge­führt hat­te, muss töd­lich ge­wirkt ha­ben. Am spä­ten Nach­mit­tag fuhr ein Wa­gen im lang­sams­ten Schritt an Gu­stavs Hau­se vor, und eine fast leb­lo­se Ge­stalt wur­de von Som­mer und ei­nem un­ter­wegs an­ge­ru­fe­nen Arzt vor­sich­tig die Trep­pe hin­auf­ge­tra­gen. Eine Vier­tel­stun­de spä­ter gab der ers­te­re beim Vor­über­fah­ren an un­serm Gast­hof zwei ei­lig ge­krit­zel­te Zei­len ab:

      Ihre Freun­din, die schon lan­ge lei­dend zu sein scheint, hat un­ter­wegs einen Blut­sturz er­lit­ten. Be­ge­ben Sie sich schleu­nigst zu ihr. Ich muss­te sie den Hän­den ei­nes Kol­le­gen über­las­sen, da mei­ne Wei­ter­rei­se un­auf­schieb­lich ist. Sa­gen Sie ihr, so­bald sie zu hö­ren fä­hig ist, dass ih­rem Gat­ten von mir kei­ne Ge­fahr droht.

      Mei­ne Frau fand Sel­ma im Mor­phi­um­schlaf und ließ sich als hel­fen­der En­gel an ih­rem Bet­te nie­der, von dem sie nur wich, um an das mei­ni­ge zu ei­len, nach­dem Gu­stav mich im Gast­hof ab­ge­lie­fert hat­te. Dort lag ich dann drei Wo­chen mit aus­ge­streck­tem Fuß un­tä­tig, ohne den schwer be­dräng­ten Freun­den hel­fen zu kön­nen.

      Mit dem Ge­sicht ei­nes Verzwei­feln­den er­schi­en Gu­stav an mei­nem La­ger. Denn er lieb­te Sel­ma doch, und mehr, als er sel­ber ge­wusst hat­te. Seit er in die Ge­fahr, sie zu ver­lie­ren, blick­te, ging ihm auf, was er an ihr be­saß und was er bis­her vor sei­nem in­ne­ren Wüh­len über­se­hen hat­te. Dies­mal klag­te er auch nicht über die Dä­mo­nen, die sich aufs neue ge­gen sein Schaf­fen ver­schwo­ren, er sprach nur von Sel­ma. Täg­lich we­nigs­tens ein­mal hol­te er An­ge­la weg, weil die Kran­ke sich nach ih­rer wei­chen Stim­me und ih­ren lin­den Hän­den sehn­te. Als sich nach lan­gen vier­zehn Ta­gen ihr Zu­stand zu bes­sern schi­en, und man dar­an den­ken konn­te, sie in die mil­de­re Luft des Gen­fer Sees zu brin­gen, fuhr er nach Mon­treux vor­aus, wo er ver­geb­lich ein Un­ter­kom­men für die Kran­ke such­te. Ein freund­li­cher Zu­fall führ­te ihm je­doch sei­nen al­ten Freund und An­hän­ger Dr. Ruh­land in den Weg, der sich ei­ner schwa­chen Lun­ge we­gen am See auf­hielt, und die­ser fand ihm in dem gleich­falls wind­ge­schütz­ten klei­nen La Tour de Peilz ein schö­nes son­ni­ges Stock­werk un­mit­tel­bar am Was­ser. Dor­thin brach­te er die Kran­ke in Ge­sell­schaft ei­ner ge­schul­ten Wär­te­rin und der ver­trau­ten Magd. Dass wir nach­fol­gen wür­den, so­bald mein Fuß es ge­stat­te­te, ver­stand sich von selbst und war schon bei Über­nah­me der Dop­pel­woh­nung vor­ge­se­hen. Die bei­den Frau­en trenn­ten sich mit Leid, doch ver­lang­te Sel­ma in ih­rer Schwä­che nach kei­ner Auss­pra­che mehr; nur die Bot­schaft Som­mers hat­te An­ge­la ihr noch trös­tend zu­ge­flüs­tert.

      Ehe er schied, brach­te Gu­stav mir sei­nen »Be­frei­er« in der neu­en Fas­sung.

      Du hast jetzt Zeit und Samm­lung zum Le­sen, sag­te er ernst; lies und sage mir dann klar und of­fen, wie ich dich ken­ne, was du da­von hältst. Dein Ur­teil soll mir ein Got­tes­ur­teil sein.

      Ich las einen gan­zen Tag und eine hal­be Nacht, und als ich fer­tig war, las ich zum zwei­ten Mal. Es war die alte, be­zwin­gen­de Spra­che, viel­leicht in noch ge­stei­ger­ter Kraft, es wa­ren die Ge­stal­ten, an de­nen ich mich ein­mal be­rauscht hat­te. Aber ein selt­sa­mes Däm­mer­licht um­schwank­te sie, ent­klei­de­te sie ih­rer Un­mit­tel­bar­keit und über­zeu­gen­den Nähe. Oder lag es an mir, dass ich, um so­viel äl­ter ge­wor­den, die ers­te ju­gend­li­che Be­geis­te­rung nicht mehr auf­brin­gen konn­te? Nein, es lag an der Sa­che. Zwar der An­fang war fast der­sel­be ge­blie­ben, und auch die »Va­rus­schlacht« hat­te noch viel von ih­rer al­ten Grö­ße, aber den drit­ten Teil, den Tod des Be­frei­ers, konn­te ich nur als völ­lig miss­lun­gen be­trach­ten. Die Vor­stel­lung, dass Ar­mi­ni­us kein an­de­rer als Sieg­fried sei, hat­te ge­wiss et­was Be­ste­chen­des und war ja dem Dich­ter schon frü­her na­he­ge­tre­ten; jetzt wur­de sie An­lass, dass sich al­les trüb­te und ver­wirr­te. Die bei­den ers­ten Tei­le stan­den noch im hel­len Licht der Ge­schich­te, der drit­te ver­lor sich ins My­thisch-Mys­ti­sche. Die er­schla­ge­ne Al­rau­ne, Wo­tan und die Siegs­göt­tin­nen wa­ren in der »Va­rus­schlacht« nur Mit­tel ge­we­sen, die der von hel­le­nisch-rö­mi­schem Geist be­rühr­te Che­rus­ker­fürst brauch­te, um sein Volk auf­zu­rüt­teln. Im drit­ten Tei­le spiel­ten sie leib­haft her­ein. Der ver­nich­te­te Va­rus spuk­te in Ge­stalt des Dra­chen Faf­ner ver­wir­rend her­um. War’s nicht, um ernst­lich an dä­mo­ni­sche Ein­flüs­se zu glau­ben? Der Ge­dan­ke, aus dem das Un­glück des Oheims ge­flos­sen war, soll­te auch dem Nef­fen zum Ver­häng­nis wer­den. Sein Werk hat­te sich rä­chend ge­gen ihn selbst ge­wandt. Nicht sei­ne In­nen­kraft hat­te ver­sagt, sie ging nur fehl, weil sie nicht mehr von der na­tür­li­chen Quel­le ge­speist war. Wie hat­te er doch selbst ein­mal bei Mol­fetta im Hin­blick auf die Grie­chen ge­ur­teilt? Gro­ße Dich­tung, sag­te er, ist nicht das Werk ei­nes Ei­gen­bröt­lers, an der großen Dich­tung schafft ein gan­zes Volk. Jetzt war er los­ge­ris­sen von sei­nem Volk, er büß­te sei­ne Ent­frem­dung von Hei­mat und Le­ben. Das Schlimms­te war, dass er, um einen Aus­gleich zwi­schen den bei­den ver­schie­de­nen Auf­fas­sun­gen des Che­rus­kers her­zu­stel­len, nach­träg­lich die Va­rus­schlacht im glei­chen Sin­ne über­ar­bei­tet und da­mit das fer­ti­ge Stück zwar auf geist­rei­che Wei­se, aber höchst ver­derb­lich ent­stellt hat­te. Wohl lag auch noch in die­ser ab­ge­irr­ten Fas­sung rei­ches poe­ti­sches Gold aus­ge­schüt­tet, aber als Gan­zes war das Werk eine Miss­ge­burt.

      Als ich fer­tig war, gab ich, ohne ir­gend­ei­ne Mei­nung zu äu­ßern, die Blät­ter an An­ge­la, die kei­ne ge­eich­ten Kunst­ma­ße, aber ein sehr le­ben­di­ges, an­ge­bo­re­nes Ge­fühl für poe­ti­sche Wer­te be­saß.

      Sie las ent­zückt und hin­ge­ris­sen. Aber von Zeit zu Zeit ließ sie das Blatt mit ei­nem »Das ver­ste­he ich nicht« sin­ken. Als sie zu Ende war, blät­ter­te sie zu­rück, wie ich es ge­tan hat­te, und sag­te dann ganz be­stürzt und ver­wirrt:

      Aber das sind ja un­mög­li­che Din­ge.

      Es wa­ren in der Tat un­mög­li­che Din­ge. Und ich stand vor der Auf­ga­be, ihm das zu sa­gen, denn von mir er­war­te­te er die Wahr­heit! Der un­glück­li­che Mann hing jetzt, wie ich vor we­ni­gen Ta­gen auf dem Glet­scher­hang, zwi­schen Sein und Nicht­sein. Und ich, statt zu tun, was er ge­tan hat­te, dem Freund einen Halt zu ge­ben, ich soll­te ihn hin­un­ter­sto­ßen! Es gibt kei­ne Zeit in mei­nem Le­ben, wo ich mehr ge­lit­ten hät­te als da­mals. Auch die schwers­ten La­gen hat­ten sonst im­mer noch das Gute, dass der Weg un­wei­ger­lich vor­ge­zeich­net war. Hier stan­den zwei Wege of­fen, die bei­de ins Ver­der­ben führ­ten. Wel­chen soll­te ich ge­hen? Ich hat­te Au­gen­bli­cke, wo ich wünsch­te, er hät­te mich in den wei­ßen Ab­grund rol­len las­sen.

      An­ge­la sag­te: Wenn er so groß ist, wie ich ihn hal­te, wird er die Wahr­heit hö­ren kön­nen.

      Das wird er frei­lich, ent­geg­ne­te ich, aber wie wird sie auf ihn wir­ken, jetzt, in die­sem trau­ri­gen Au­gen­blick?

      Und doch bleibt dir nichts andres üb­rig, da er sie von dir er­war­tet, mein­te sie. Schwei­gen wäre schlim­mer, und das Schlimms­te: ihn auf dem Irr­weg wei­ter­ge­hen zu las­sen.

      Tag und Nacht ging es in mir auf und ab: Was sage ich? Wie sage ich’s? Und soll­te ich wirk­lich spre­chen, da ihm ja doch nicht zu hel­fen war? Ich sah be­reits auch die Alex­an­der­tra­gö­die ah­nend ins Ufer­lo­se zer­rin­nen. Der Brah­ma­ne