Tages war er früh von dem heiligen Felsen der Verna aufgebrochen, nachdem er bei den frommen Brüdern genächtigt und zuvor den Abend mit ihnen im Gespräch über ihren großen Stifter verbracht hatte. Vor dem Abstieg hatte er noch bei Sternenschein die höchste Spitze des Berges erklettert, der das Tal des Arno von dem des Tiber scheidet, um den Aufgang der Sonne zu erwarten. Und die Nähe der beiden Schicksalsströme Italiens berührte ihn mit solcher Weihe, dass er ihren Lauf durch Raum und Zeit im Geist begleiten musste wie den Aufbruch zweier Heldenbrüder, die hinausziehen um Weltruhm und Weltmacht zu gewinnen, der eine mit kriegerischen Waffen, der andere mit solchen des Geistes.
An Tagen, die er so in gehobener Stimmung begann, konnte ihm keine Mühsal des Weges etwas anhaben, noch ließ er sich durch einen unliebsamen Zufall stören. Wo ihm aber eine bedeutsame Begegnung bevorstand, da fühlte er es an einem inneren Zuck, wie der Rutengänger, in dessen Händen die Gabel ausschlägt, wenn er die Stelle eines unterirdischen Wasserlaufes betritt.
Der Tag begann zu sinken, als ihm von dem Vorsprung einer steilen Kuppe eine Villa von edlen Umrissen inmitten eines mächtigen alten Parks entgegentrat. Michelangelo habe sie gebaut, behauptete der Wirt in der Osteria am Wege, wo der Fremde ein Glas kühlen Wein und einen Abendimbiss zu sich nahm. Mochte die ländliche Angabe stimmen oder nicht – die Nähe von Michelangelos Geburtsort legte es nahe, dass auch Unbeglaubigtes auf seinen Namen ging – die magische Rute zuckte in seiner Hand: diese Villa musste er sehen. Ein Eindruck von Versunkenheit und Verlassenheit zog ihn besonders an, und ehe noch sein Geist einen Beschluss gefasst hatte, waren schon seine Füße da hinauf in Bewegung, wie um einen ihm gehörigen Gegenstand in Besitz zu nehmen. Ein geschwungener Fahrweg, ungepflegt und steinig, schmiegte sich am Felsgelände hin, nach der Talseite zu von einem engen, doppelreihigen Zypressengang begleitet. Das Tor war verschlossen, ein rostiger Glockenzug musste mehrmals mit Kraft gerissen werden, bis ein alter Mann, dem Aussehen nach der Gärtner, mit verwunderten Augen vor dem Besucher stand.
Ob es erlaubt sei Haus und Garten zu besichtigen, fragte dieser. Der Alte wollte gerne den Besuch des Parks gestatten, aber wegen des Hauses machte er Schwierigkeit, weil er nicht ermächtigt sei, in Abwesenheit der Herrschaft jemanden hineinzuführen. Der Wanderer schritt indessen schon den Kiesweg zwischen den Lorbeerhecken entlang, als könne es nicht anders sein. Der Garten, der gemäß der Bodengestaltung in flachen Stufen angelegt war, ließ freilich erkennen, dass ihm das Auge des Gebieters seit langem fehlte. Die Pracht des Pflanzenwuchses ging schon in Verwilderung über, der die Hand des alten Gärtners nicht mehr zu steuern vermochte. Das tiefgelegte, von Kübelpflanzen umstandene Viereck des Wasserbeckens war verschlammt und sein Sprühstrahl schlief. Den seltsamsten Anblick gewährten die mächtigen Schleppkastanien auf dem Rasenplan vor dem Hauseingang, deren unterste Zweige wie lange Schlangen am Boden schleiften und Fallstricke für die Füße legten. Das Ganze ein Bild des beginnenden Wiedereinbruchs der Natur in die von Menschenhand geschaffene Ordnung. Nur die gut beschnittenen Hecken und der zärtlich gepflegte Blumenflor lobten den Fleiß und die Liebe des alten Mannes. Er war einer von den alten Gärtnern, wie man sie nicht selten auf solchen verwahrlosten italienischen Villen findet, ganz mit dem Boden, den er bebaute, verwachsen und für keine Verpflanzung mehr zu haben. Ich kann den Park nicht so pflegen wie ich möchte, sagte er entschuldigend zu dem Besucher, der durch sein lebendiges Eingehen gleich sein Vertrauen gewonnen hatte. Ich bin ganz allein hier, die junge Herrschaft lebt immer in Paris und ist überhaupt noch niemals hier gewesen. Sie schickt mir auch kein Geld für den Garten. Ich könnte ihn gar nicht erhalten, wenn ich nicht Blumen zöge zum Verkauf für die großen Kirchenfeste in der Umgegend und feines Gemüse, das ich nach Bibbiena liefere. Dafür kann ich gerade das Allernötigste beschaffen. Er hatte Tränen im Auge, als er das sagte. Mein Gehalt ist auch ausgeblieben, seit die alte Herrschaft tot ist, setzte er hinzu. Nun, ich lebe auch so. Ich habe mein kleines Häuschen von zwei Zimmern und einer Feuerstelle, den Küchenbedarf ziehe ich mir selbst, ein paar Hühner halte ich auch – ein Schwein – ich leide keine Not. Die Frau ist tot, die Kinder sind draußen in der Welt. Ich ziehe meine kleine Enkelin auf, das Kind meiner verstorbenen Tochter. Sonst habe ich nichts als meinen Garten, ich stürbe, wenn ich ihn verlassen müsste.
So viel Treue zur Scholle gefiel dem Wanderer, und die offene Menschlichkeit in dem guten Gesicht und in den noch hellen stahlblauen Augen hob ihm den Mann des Volkes aus der Gewöhnlichkeit. Er hatte unterdessen in seiner Gesellschaft alle Baumgänge und Anlagen des Parks durchwandelt, der die ganze Breite der Hügelstufe einnahm, und fühlte sich mehr und mehr gefesselt. Die Lage des Hügels zwischen zwei Flusstälern, dem breiteren westlichen, vom Silberbande des Arno durchschlungenen, und dem engen östlichen mit einem kleinen Wasserlauf, der seinem jungen Zinsherrn, dem Tiber, zustrebte, gab ihm etwas Eigenes, Bedeutsames, das sich nicht so leicht anderwärts wiederholte. Wie schön müsste es sein, hier oben eine Nacht mit Mond und Sternen zu verbringen und in kurzem Abstand Sonnenunter- und -aufgang hinter den sich gegenüberliegenden Höhen zu erleben. Auch das Haus wurde von allen Seiten umgangen. Es war im Stil der italienischen Renaissance-Villen angelegt, ein bei geringer Höhe lang hingestreckter Bau mit vortretender Terrasse, zu der die schön geschwungene doppelte Freitreppe, eine spärlich tröpfelnde Brunnennische umrahmend, emporführte. Man sah es den Räumen von außen an, dass sie nie zum behaglichen Wohnen, nur zu festlicher Glanzentfaltung gedient haben konnten. Oben auf der Terrasse zwischen beiden Aufgängen wuchsen aus einer mächtigen Rosenschale zwei steinerne Putten, um deren Nacktheit ein blühender Rosenbusch neckisch seine Zweige schlang. Hier war jedoch die Grenze des Lebens, die Wohnstätte selber lag entseelt, ihre Fensterladen waren geschlossen wie die schweren Augendeckel eines Toten.
Dem alten Gärtner, der selten mehr die Wohltat eines Gesprächs mit Höhergebildeten genoss, war unterdessen das Herz weit aufgegangen, und er hatte den Wanderer in die ganze Geschichte der herrschaftlichen Familie durch mehrere Generationen, so wie sie ihm selber bekannt war, eingeweiht. Dass dieser zwar nicht um die Persönlichkeiten, wohl aber um die einschlägigen Verhältnisse Bescheid wusste, vermehrte sein Zutrauen und ließ ihm den unerwarteten Besucher fast wie einen alten Bekannten erscheinen. Nun rückte der Fremde mit seinem Wunsch, hier oben schlafen zu dürfen, heraus. Der alte Mann blickte bedenklich: in seiner Gärtnerwohnung sei kein Raum und sie wäre auch zu gering für einen solchen Gast. Der Herrschaft würde ja freilich kein Unrecht geschehen und sie brauchte es auch gar