Isolde Kurz

Gesammelte Werke


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be­zo­gen wa­ren – ein je­des von den an­dern grund­ver­schie­den, aber je­des für sich eine ein­heit­li­che Per­sön­lich­keit –, so kann ich kein Ka­pi­tel mei­nes Le­bens auf­rol­len, ohne dass das gan­ze Stern­bild sich mit­be­wegt. Ich kann dem Le­ser je­doch nicht zu­mu­ten, sich die Un­ter­grün­de und Zu­sam­men­hän­ge aus den ver­schie­de­nen Erin­ne­rungs­bü­chern zu­sam­men­zu­su­chen. Da bleibt nichts üb­rig, als ge­le­gent­lich in den al­ten Far­ben­topf zu grei­fen und den zu­vor in ih­rer Le­bens­fül­le ge­schil­der­ten Ge­stal­ten ihr Er­den­kleid we­nigs­tens leicht­hin wie­der um­zu­hän­gen. Da­bei ist es un­ver­meid­lich, dass aus mei­nem Le­ben her­aus ge­se­hen die zu­vor nur in ih­ren ei­ge­nen Wer­ten und Rech­ten Ge­schil­der­ten nun­mehr an­ders er­schei­nen und das gan­ze Blick­feld sich ver­än­dert. Auch von den aus­ge­präg­ten Ge­stal­ten, die von au­ßen her mei­nen Weg ge­kreuzt ha­ben, sind die meis­ten ent­we­der schon in Son­derab­hand­lun­gen dar­ge­stellt, oder sie ste­hen ir­gend­wo ver­klei­det in mei­nen Bü­chern, dann frei­lich so ver­wan­delt und in­ein­an­der um­ge­gos­sen, dass sie sich sel­ber nicht mehr er­ken­nen wür­den noch ihre Glie­der an sich zu neh­men ver­möch­ten, da das eine vom einen, das an­de­re vom an­dern stammt, und die­se ge­misch­ten Be­stand­tei­le nun­mehr na­tür­lich wie bei Le­ben­den in­ein­an­der­grei­fen und neue In­di­vi­dua­li­tä­ten bil­den. Ich glau­be, der große Schöp­fer hält es auch nicht an­ders, als dass er sei­ne Ge­bil­de im­mer wie­der mischt und an­ders zu­sam­men­setzt. Wie soll­te ich sol­che ver­tausch­ten Glie­der wie­der von­ein­an­der lö­sen und je­dem das sei­ne zu­rück­ge­ben? Die selbst­ge­schaf­fe­nen Bil­der sind dem Ur­he­ber, der sie mit Tei­len sei­nes ei­ge­nen We­sens ver­kit­tet, glaub­haf­ter und we­sent­li­cher als die leib­haf­ten Vor­la­gen, die, nach­dem sie ein­mal die­sen Dienst ge­leis­tet, in der Erin­ne­rung zu­rück­tre­ten und ver­blas­sen. Was die Dich­tung sich ein­mal zu­ei­gen ge­nom­men hat, das ge­hört ihr für im­mer und kommt für die Rück­ver­set­zung in die Wirk­lich­keit nicht mehr in Be­tracht. Ja, selbst mein ei­ge­nes Le­ben ist zum großen Tei­le nicht mehr mein, da es schon durch hun­dert Kanä­le, in Spie­ge­lun­gen und Par­al­le­len und in wirk­li­chen Epi­so­den, die ein­mal mein wa­ren und jetzt den er­fun­de­nen Per­so­nen ge­hö­ren, von mir ab­ge­flos­sen ist und da­mit eben­falls auf wei­te Stre­cken für die Selbst­bio­gra­fie un­brauch­bar ge­wor­den. Blei­be es, wo­hin ich es ge­ge­ben habe, sonst müss­te man­ches, was hier nur noch flüch­tig ge­streift wer­den kann, einen viel wei­te­ren Raum auf die­sen Blät­tern ein­neh­men.

      Wenn ich mich nun trotz der be­schrän­ken­den Um­stän­de doch zu­letzt noch von mei­nem Vor­satz, die Fe­der nicht mehr zur Selbst­dar­stel­lung ein­zut­au­chen, ab­wen­dig ma­chen las­se, so be­we­gen mich dazu vor al­lem die man­nig­fa­chen ir­ri­gen Ver­mu­tun­gen über mein Werk und Le­ben, de­nen ich be­son­ders bei Ge­le­gen­heit mei­nes acht­zigs­ten Ge­burts­tags in der Pres­se be­geg­net bin. Die­se zu be­rich­ti­gen liegt mir nicht nur als Ein­zel­per­sön­lich­keit, son­dern auch als Trä­ge­rin wert­vol­ler Fa­mi­li­en- und Kul­tu­r­über­lie­fe­run­gen ob. Man kann aber ge­gen sol­che Miss­ver­ständ­nis­se nicht im ein­zel­nen an­ge­hen, man kann nur an Stel­le der Ver­zeich­nun­gen das rich­ti­ge Bild set­zen, wozu au­ßer mir selbst nie­mand in der Lage ist, weil sich mein Le­ben zum größ­ten Tei­le au­ßer­halb Deutsch­lands ab­ge­spielt hat und von sei­nen frü­he­ren Zeu­gen nur noch we­ni­ge am Le­ben sind. Dass ich nicht mehr mit der Fül­le bun­ter Ein­zel­hei­ten und in der kla­ren zeit­li­chen Ab­fol­ge be­rich­ten kann wie in den Schil­de­run­gen »Aus mei­nem Ju­gend­land«, ver­steht sich von selbst. Vom an­dern Zei­tu­fer her ver­wan­deln sich die Ge­stal­ten, die die Räu­me un­se­rer Erin­ne­rung be­völ­kern, aus selbst­stän­dig han­deln­den Per­so­nen mehr und mehr in sym­bo­li­sche, sie wer­den die un­be­wuss­ten Trä­ger schick­sal­for­men­der Zeit und Le­bens­ge­wal­ten, trei­ben­der und hem­men­der, mit de­nen man sich am Ende aus­ein­an­der­zu­set­zen hat.

      Es kann sich also nur um das Wa­g­nis ei­ner Sinn­deu­tung des ei­ge­nen Da­seins han­deln, und dies ist es ja auch ganz ei­gent­lich, wozu ich auf­ge­ru­fen bin.

      Frei­lich, hier stut­ze ich aufs neue. Kann aus ei­nem stil­len Ein­zel­ge­schick, das ab­seits von dem großen Strom der Zeit­ge­schi­cke ver­lau­fen ist, über­haupt so et­was wie ein ver­steck­ter Sinn, wie eine ab­sicht­li­che Füh­rung her­aus­ge­le­sen wer­den? Ist es nicht aus­schließ­lich eine Sa­che der Trä­ger des Welt­ge­sche­hens, uns zu sa­gen wie sie wur­den, was sie sind, und wo­hin sie zie­len? Das Amt des Dich­ters ist ein lei­se­res und so schwer mit Wor­ten zu um­zir­ken. Denn die künst­le­ri­schen Be­fruch­tun­gen ge­hen im Dun­kel vor sich, und das mensch­li­che Le­ben in sei­nem Ablauf weiß we­nig von sich. Ich habe das Men­schen­we­sen, das ich mit dem Wört­lein »Ich« be­zeich­nen muss, nie so lan­ge und tief ins Auge ge­fasst wie die äu­ße­ren Er­schei­nun­gen, und die Fe­der, die sich mit ihm be­schäf­ti­gen soll, ist bei der un­ge­wohn­ten Auf­ga­be im­mer in Ver­su­chung, auf ein Au­ßer­per­sön­li­ches ab­zuglei­ten. Sei­ne Be­deu­tung für mich be­stand vor al­lem dar­in, dass es geis­ti­ges Auge war, mein Auge, Or­gan, die Ge­gen­stän­de wahr­zu­neh­men, und Mit­tel­punkt, in dem die Strö­me des Le­bens sich kreuz­ten, nicht sel­ber Ge­gen­stand der Be­trach­tung. Wo ich den Blick auf mich sel­ber rich­ten will, sehe ich mich wie dun­kel ge­führt nach dem Un­er­reich­li­chen wan­dern. In­des­sen habe ich doch stets in mei­nem Da­sein et­was Gleich­nis­ar­ti­ges ge­spürt und sehe die über­dau­er­ten Zei­ten und Zu­stän­de sich in sei­nem lan­gen Lau­fe spie­geln. So sei denn der Ver­such ge­macht, von dem was mit­teil­bar ist, eine An­schau­ung zu ge­ben.

      Hier muss ich nun zu­nächst ei­ner per­sön­li­chen Ei­gen­heit ge­den­ken, die mir erst ganz spät durch den mir frem­den Zwang, mich mit mir selbst wie von au­ßen her zu be­fas­sen, ganz deut­lich be­wusst wur­de: dass mir näm­lich die Zeit nie­mals ein li­nea­rer Be­griff ge­we­sen ist. Die Din­ge er­schie­nen mir nicht im Ver­folg, ei­nes aus dem an­de­ren ab­ge­lei­tet und ei­nes das an­de­re ab­lö­send; sie um­stan­den mich im Ring als zeit­los gleich­zei­ti­ge Ge­gen­wart. Es gab da nichts ei­gent­lich Ver­gan­ge­nes, nicht An­fang und Ende, Ju­gend und Al­ter, son­dern der Kreis hielt al­les bei­sam­men, im Kreis war das Le­ben ewig. Kei­ne Ent­wick­lung voll­zog sich bei mir li­ne­ar, son­dern im­mer nur durch Er­wei­te­rung des Krei­ses, der sich durch­ein­an­der­schob, mit mir lang­sam in der Spi­ra­le auf­stieg und mit zu­neh­men­den Jah­ren die Din­ge nur aus im­mer zu­neh­men­der Höhe zeig­te. Mei­ne Lieb­lings­fä­cher, de­nen ich von klein auf lei­den­schaft­lich nach­ging – auf ei­ge­ne Hand wie ge­zwun­ge­ner­ma­ßen al­les was ich trieb –, wa­ren die My­then, Sa­gen, Mä­ren der Völ­ker, nicht Ge­schich­te, nicht fer­ti­ge Li­te­ra­tur; die­se stand mir erst an zwei­ter Stel­le – son­dern ihr Roh­stoff: Volks­kun­de, Volks­ge­sang, Spra­che, Spra­chen mit ih­rem un­ter­ir­disch ver­schlun­ge­nen Wur­zel­werk: al­les Geis­ti­ge, was zeit­los und gleich­sam ve­ge­ta­tiv lebt, war mir na­tür­li­che Hei­mat. Woll­te ich mit der Ge­schich­te den­ken, so be­durf­te es ei­ner in­ne­ren lo­gi­schen Um­stel­lung, ich muss­te aus dem Kreis in die Li­nie tre­ten. Eben­so geht auch mein ei­ge­nes Schaf­fen nicht li­ne­ar, son­dern im Krei­se vor sich, als läge die gan­ze Ar­beit war­tend in ei­ner un­sicht­ba­ren Tie­fe und brauch­te nur ge­ho­ben zu wer­den. Wo be­gin­nen? In den sel­tens­ten Fäl­len vom An­fang her, son­dern