bezogen waren – ein jedes von den andern grundverschieden, aber jedes für sich eine einheitliche Persönlichkeit –, so kann ich kein Kapitel meines Lebens aufrollen, ohne dass das ganze Sternbild sich mitbewegt. Ich kann dem Leser jedoch nicht zumuten, sich die Untergründe und Zusammenhänge aus den verschiedenen Erinnerungsbüchern zusammenzusuchen. Da bleibt nichts übrig, als gelegentlich in den alten Farbentopf zu greifen und den zuvor in ihrer Lebensfülle geschilderten Gestalten ihr Erdenkleid wenigstens leichthin wieder umzuhängen. Dabei ist es unvermeidlich, dass aus meinem Leben heraus gesehen die zuvor nur in ihren eigenen Werten und Rechten Geschilderten nunmehr anders erscheinen und das ganze Blickfeld sich verändert. Auch von den ausgeprägten Gestalten, die von außen her meinen Weg gekreuzt haben, sind die meisten entweder schon in Sonderabhandlungen dargestellt, oder sie stehen irgendwo verkleidet in meinen Büchern, dann freilich so verwandelt und ineinander umgegossen, dass sie sich selber nicht mehr erkennen würden noch ihre Glieder an sich zu nehmen vermöchten, da das eine vom einen, das andere vom andern stammt, und diese gemischten Bestandteile nunmehr natürlich wie bei Lebenden ineinandergreifen und neue Individualitäten bilden. Ich glaube, der große Schöpfer hält es auch nicht anders, als dass er seine Gebilde immer wieder mischt und anders zusammensetzt. Wie sollte ich solche vertauschten Glieder wieder voneinander lösen und jedem das seine zurückgeben? Die selbstgeschaffenen Bilder sind dem Urheber, der sie mit Teilen seines eigenen Wesens verkittet, glaubhafter und wesentlicher als die leibhaften Vorlagen, die, nachdem sie einmal diesen Dienst geleistet, in der Erinnerung zurücktreten und verblassen. Was die Dichtung sich einmal zueigen genommen hat, das gehört ihr für immer und kommt für die Rückversetzung in die Wirklichkeit nicht mehr in Betracht. Ja, selbst mein eigenes Leben ist zum großen Teile nicht mehr mein, da es schon durch hundert Kanäle, in Spiegelungen und Parallelen und in wirklichen Episoden, die einmal mein waren und jetzt den erfundenen Personen gehören, von mir abgeflossen ist und damit ebenfalls auf weite Strecken für die Selbstbiografie unbrauchbar geworden. Bleibe es, wohin ich es gegeben habe, sonst müsste manches, was hier nur noch flüchtig gestreift werden kann, einen viel weiteren Raum auf diesen Blättern einnehmen.
Wenn ich mich nun trotz der beschränkenden Umstände doch zuletzt noch von meinem Vorsatz, die Feder nicht mehr zur Selbstdarstellung einzutauchen, abwendig machen lasse, so bewegen mich dazu vor allem die mannigfachen irrigen Vermutungen über mein Werk und Leben, denen ich besonders bei Gelegenheit meines achtzigsten Geburtstags in der Presse begegnet bin. Diese zu berichtigen liegt mir nicht nur als Einzelpersönlichkeit, sondern auch als Trägerin wertvoller Familien- und Kulturüberlieferungen ob. Man kann aber gegen solche Missverständnisse nicht im einzelnen angehen, man kann nur an Stelle der Verzeichnungen das richtige Bild setzen, wozu außer mir selbst niemand in der Lage ist, weil sich mein Leben zum größten Teile außerhalb Deutschlands abgespielt hat und von seinen früheren Zeugen nur noch wenige am Leben sind. Dass ich nicht mehr mit der Fülle bunter Einzelheiten und in der klaren zeitlichen Abfolge berichten kann wie in den Schilderungen »Aus meinem Jugendland«, versteht sich von selbst. Vom andern Zeitufer her verwandeln sich die Gestalten, die die Räume unserer Erinnerung bevölkern, aus selbstständig handelnden Personen mehr und mehr in symbolische, sie werden die unbewussten Träger schicksalformender Zeit und Lebensgewalten, treibender und hemmender, mit denen man sich am Ende auseinanderzusetzen hat.
Es kann sich also nur um das Wagnis einer Sinndeutung des eigenen Daseins handeln, und dies ist es ja auch ganz eigentlich, wozu ich aufgerufen bin.
Freilich, hier stutze ich aufs neue. Kann aus einem stillen Einzelgeschick, das abseits von dem großen Strom der Zeitgeschicke verlaufen ist, überhaupt so etwas wie ein versteckter Sinn, wie eine absichtliche Führung herausgelesen werden? Ist es nicht ausschließlich eine Sache der Träger des Weltgeschehens, uns zu sagen wie sie wurden, was sie sind, und wohin sie zielen? Das Amt des Dichters ist ein leiseres und so schwer mit Worten zu umzirken. Denn die künstlerischen Befruchtungen gehen im Dunkel vor sich, und das menschliche Leben in seinem Ablauf weiß wenig von sich. Ich habe das Menschenwesen, das ich mit dem Wörtlein »Ich« bezeichnen muss, nie so lange und tief ins Auge gefasst wie die äußeren Erscheinungen, und die Feder, die sich mit ihm beschäftigen soll, ist bei der ungewohnten Aufgabe immer in Versuchung, auf ein Außerpersönliches abzugleiten. Seine Bedeutung für mich bestand vor allem darin, dass es geistiges Auge war, mein Auge, Organ, die Gegenstände wahrzunehmen, und Mittelpunkt, in dem die Ströme des Lebens sich kreuzten, nicht selber Gegenstand der Betrachtung. Wo ich den Blick auf mich selber richten will, sehe ich mich wie dunkel geführt nach dem Unerreichlichen wandern. Indessen habe ich doch stets in meinem Dasein etwas Gleichnisartiges gespürt und sehe die überdauerten Zeiten und Zustände sich in seinem langen Laufe spiegeln. So sei denn der Versuch gemacht, von dem was mitteilbar ist, eine Anschauung zu geben.
Hier muss ich nun zunächst einer persönlichen Eigenheit gedenken, die mir erst ganz spät durch den mir fremden Zwang, mich mit mir selbst wie von außen her zu befassen, ganz deutlich bewusst wurde: dass mir nämlich die Zeit niemals ein linearer Begriff gewesen ist. Die Dinge erschienen mir nicht im Verfolg, eines aus dem anderen abgeleitet und eines das andere ablösend; sie umstanden mich im Ring als zeitlos gleichzeitige Gegenwart. Es gab da nichts eigentlich Vergangenes, nicht Anfang und Ende, Jugend und Alter, sondern der Kreis hielt alles beisammen, im Kreis war das Leben ewig. Keine Entwicklung vollzog sich bei mir linear, sondern immer nur durch Erweiterung des Kreises, der sich durcheinanderschob, mit mir langsam in der Spirale aufstieg und mit zunehmenden Jahren die Dinge nur aus immer zunehmender Höhe zeigte. Meine Lieblingsfächer, denen ich von klein auf leidenschaftlich nachging – auf eigene Hand wie gezwungenermaßen alles was ich trieb –, waren die Mythen, Sagen, Mären der Völker, nicht Geschichte, nicht fertige Literatur; diese stand mir erst an zweiter Stelle – sondern ihr Rohstoff: Volkskunde, Volksgesang, Sprache, Sprachen mit ihrem unterirdisch verschlungenen Wurzelwerk: alles Geistige, was zeitlos und gleichsam vegetativ lebt, war mir natürliche Heimat. Wollte ich mit der Geschichte denken, so bedurfte es einer inneren logischen Umstellung, ich musste aus dem Kreis in die Linie treten. Ebenso geht auch mein eigenes Schaffen nicht linear, sondern im Kreise vor sich, als läge die ganze Arbeit wartend in einer unsichtbaren Tiefe und brauchte nur gehoben zu werden. Wo beginnen? In den seltensten Fällen vom Anfang her, sondern