Zeit für sich selber aufnehmen und aus noch erschwerterer Stellung, der weiblichen heraus, durchführen, bevor sie mit ihrer Sache auch der seinigen dienen konnte? Das zu hoffen war Vermessenheit, ich hoffte es doch, wenn auch nur in einer vorschwebenden Ahnung, in einem Lichtstrahl, der aus verhüllter Zukunft herüber fiel: dass es dennoch so kommen werde. Ich habe oftmals in Zeiten, wo ich nicht wusste, wo aus noch ein, dergleichen unausschaltbare innere Gewissheit gehabt, dass mein Ziel irgendwie mich finden werde, dass ohne gewaltsames Drängen die Zeit selber mir die Frucht reifen werde. In jener Nacht des 10. Oktober 1873 zu Tübingen, als mein Bruder Edgar, damals ein blutjunger Arzt, bei dem jählings geschiedenen Vater allein die Totenwache hielt, gelobte er ihm, dem ererbten Namen durch die eigene Laufbahn Auszeichnung zu erwerben: er hat dieses Versprechen in seinem pfeilgeraden sicheren Lauf glänzend gelöst. Ich blieb in meinen magischen Kreis gebannt, wo die Enden beisammen sind, und musste auf Ort und Stunde warten, um das meine, noch kühnere, zu lösen.
Der zweite hemmende Einfluss, der über meinem Leben stand, war mein Geschlecht. Kaum dürfte je die Frau in Deutschland niedriger gestanden haben als im letzten Drittel des vorigen Jahrhunderts, in das meine Jugend fiel. Dass es eine Bettina, eine Karoline Schlegel, eine Günderode, gegeben hat, Frauen, von denen ihre Zeit, die ja auch die Zeit Goethes war, die Färbung mit empfing, das wirkte nicht mehr nach, es lag als bloßer Wissensstoff eingesargt in der Literaturgeschichte. Eine Pflicht zur Ausbildung der Töchter kannte weder der Staat noch die Familie, es stand ganz bei den Eltern, ob und was sie diese lernen lassen wollten. In den bürgerlichen Kreisen, auch in den gebildeten, soweit sie nicht wohlhabend waren, begnügte man sich oft genug damit, ihnen die häuslichen Arbeiten beizubringen und sie zu unbezahlten Dienstboten heranzuziehen, besonders wenn das Studium der Söhne die elterlichen Mittel erschöpfte. Und wenn auch bessergestellte Häuser die ihrigen zur Schnellbleiche in irgendein französisch sprechendes Institut schickten, der Geist, der die Erziehung durchwaltete, blieb der gleiche. Erwachsen, hatte ein solches Mädchen keine dringendere Aufgabe, als sich nach dem künftigen Ernährer umzusehen, der die Sorge für sie übernahm und dem sie nun mit ihrem ganzen Sein zu dienen, nach dem sie sich bis zur völligen Aufgabe ihres eigenen gottgeschaffenen Selbst zu modeln hatte. Der scharfe Wettbewerb auf dem Heiratsmarkt lähmte jedes höhere Streben und verdarb auch den weiblichen Charakter. Selbst das hohe Amt der Mutterschaft vermochte ihn nicht mehr zu heben, denn wenn der Wettlauf unter Zurückdrängung der Mitbewerberinnen gewonnen war, so begann er bald aufs neue und fast noch schärfer um die Zukunft der heranwachsenden Töchter. Es fragt sich, ob nicht die physische Mutterschaft, die ihr Hegen und Sorgen auf den Kreis der eigenen Geburten beschränkt, unter Umständen dem höheren Muttertum im Wege ist: ausschließlich auf einen Punkt gerichtete Liebe macht liebeleer gegen die anderen. Darum gehörte wirkliche Frauenfreundschaft, ja, nur ein echtes Wohlwollen von Frau zu Frau zu den seltensten Ausnahmen. So blieb nicht nur der Geist der Frau völlig unentwickelt und in einen umlaufenden Kreis von Kleinigkeiten gebannt, ohne Aussicht auf das Große und Ganze, auch ihr Seelenleben war entwürdigt und entadelt. Schlimmer noch als der tatsächliche Zustand war es, dass dieses öde, verkümmerte Gebilde als Idealbild der deutschen Frau die bürgerliche Gesellschaft beherrschte. Gehe ich fehl, wenn ich die Gestalt des Gretchen dafür mitverantwortlich mache? Es ist ein seltsames Verhängnis, dass gerade der Dichter, der dem Wesen der Frau am nächsten kam und es in vielfachen Spiegelungen am echtesten dargestellt hat, die Gestalt erschuf und mit dem Schmelz der höchsten Poesie umkleidete, die die deutsche Frau um Jahrhunderte zurückwerfen half. Der Gretchenkult war ein allzu bequemer, man konnte ihr in Hemdärmeln dienen, sie stellte keine kulturelle Forderung an den männlichen Partner und erhöhte sein Selbstgefühl durch ihre tiefe Unterworfenheit. Noch tönt mir aus Jugendtagen das vielgesungene Brautlied in die Ohren: »Mein hoher Herr, du willst herab dich lassen / beseligend zu deiner armen Magd.« Heine dagegen sang frivol: »Den Leib möcht ich noch haben, / den Leib so zart und jung, / die Seele könnt ihr begraben, / hab selber Seele genung.« Demütige Magd oder Weibchen – Leib ohne Seele – das machte der männliche Formungswille aus dem handlichen Plastilin. Und das Plastilin kam ihm willig entgegen, es war stolz auf seine Hörigkeit die keine Mühe kostete, es trug seine geistige Armut wie einen Schmuck, worin der Liebeszauber steckt. Manche gab sich sogar aus Gefallsucht ärmer und schwächer als sie war. Sie durfte ja gar keinen geistigen Besitz mit in die Ehe bringen, sie hatte das weiße Blatt zu sein, auf das der Mann seine Schrift eintrug. Eine Schrift, die auch wieder zu löschen war im Fall einer zweiten Ehe, denn sie pflegte nicht allzutief einzudringen. Ihrer Wißbegier, wenn sie solche hatte, wurden alle Gegenstände zerkleinert wie einem Vögelchen in den Schnabel gesteckt. Ich kenne eine Damenbücherei aus dem vorigen Jahrhundert, wo sich noch ein Kuriosum befindet, eine »Sternkunde für Damen«! Alle Gebreiten des Lebens gehörten ausschließlich und unweigerlich dem Manne, die Frau galt in der Gesellschaft nur als sein Anhängsel, auch wenn sie zufällig die Bedeutendere war; verwitwet fiel sie in ihr Nichts zurück. Als Unvermählte blieb sie lebenslänglich missachtet und auf die Seite geschoben. Nur selten gelang es einer, durch große künstlerische Leistung auf irgendeinem Gebiete diesen Bann zu brechen. Sonst war es ein Kleben im Pech, mit leerem Kopf und unterdrückten Lebensinstinkten, im Herzen nur die Angst, den rechten Zeitpunkt zu verpassen. Wie viel einfacher und natürlicher lebte sichs doch im Volke; bei Töchtern aus guten Häusern waren Schwermut und Wahnsinn keine seltene Erscheinung. Da kam dann freilich der Mann als Erlöser und konnte nicht lange daraufhin angesehen werden, ob er der Rechte sei: die Sache war eilig, nach zwanzig hörte schon meist die Jugend auf, denn der Durchschnittskäufer verlangte die frischeste Ware. So blieb die Frau ein unerlöster Mensch und ein durch und durch gefälschtes Erzeugnis einer falschen Zivilisation; ihr wahres Wesen kannte niemand, auch sie selber nicht. – Von Schiller stammt der Ausspruch, dass die Frau nicht nur kein geistiges Eigenleben besitze, sondern dass der Mann auch in ihrem Geist keine dauernde Pflanzung anlegen könne. Goethe hat ihr wenigstens das Recht zugebilligt, dabei zu sein, »wenn kluge Männer reden«. Vergaßen die Dichter, dass am Aufgang der Dichtung ein Frauenname steht, vor dem das klassische Altertum sich neigte, der ewige Name Sappho? Wo von der Einzigen eine Strophe laut wird, da versinken die Jahrtausende zwischen ihr und uns. Sie nennt ihren Quittenbaum, und wir hören den lauen Regen Ioniens durch seine Zweige rauschen; steht er nicht unten in unserem Garten? Die Griechen stritten nicht, ob solche Höhe der Frau erreichbar sei, sie ließen die Wahrheit der Erscheinung gelten. –