mit solcher Stoßkraft, dass ihm die Belange der anderen gar nicht zum Bewusstsein kamen; Unrast und Reizbarkeit machten ihn verzehrend. Nur der Adel seines ganzen Wesens half mit den Schärfen dieses schwierigen Temperaments zurechtzukommen. Wir zwei standen uns nicht nur nach den Jahren, sondern auch in den innersten Bedürfnissen und den heimlichsten Seelenschwingungen am nächsten und konnten uns ohne Worte verstehen; der gleiche Himmel der Poesie wölbte sich über unseren Stirnen. Ich wusste als Kind und junges Mädchen, dass er mich glühend liebte, mit einer scheuen verschwiegenen Zärtlichkeit, die sich hinter spröder Schale barg. Aber sein Beherrschenwollen, sein Alleinbesitzenwollen machte es schwer, in dauerndem Frieden mit ihm zu leben; nicht nur der Schwester, auch den Jugendfreunden ging es so. Zwar mein Tun bekrittelte er niemals, er verstand es zu gut von seinem eigenen innersten Wesen aus, aber mein Denken und Meinen suchte er sich immerdar zu unterwerfen und mir die geistige Freiheit zu beschränken, ohne die ich nicht leben konnte. Dabei waren wir in allen tieferen Fragen so selbstverständlich einig, dass es nur immer ein Stürmen, aber ein schmerzliches, auf der Oberfläche gab. Jahre hindurch übten wir uns in einem poetischen Wettstreit, dessen Proben in die Hände der Mutter gelegt wurden. Bei diesen unterschieden sich frühe sein Hang, sich im Subjektiven, Gegenwärtigen einzuschließen, und der meinige, aus dem Persönlichen ins Allgemeine hinauszudrängen. Es mochte für den Ehrgeizigen, der sonst mit seinen großen Fähigkeiten allenthalben mühelos voranstand, nicht ganz leicht sein, allmählich auf diesem Punkt vor der jüngeren Schwester zurückzutreten. Als Erwachsener verstummte er, und während ich vor die Öffentlichkeit trat, pflegte er nur heimlich sein Talent weiter. Um so höher ehrt es ihn, dass er niemals auch nur einen Hauch von Missmut fühlen ließ, sondern mir willig das Meine ließ. Er, der persönlich so stolz war, wusste nichts vom Geschlechtshochmut der Dummen. Nach seinem Tode im Jahre 1904 konnte ich eine Auswahl seiner Gedichte, die sich überraschend in seinem Nachlass fanden, herausgeben, wie später die der Mutter, der sein Talent artverwandter ist als dem Vater. Zwar mit der Feile, der zehnten Muse, wie Leopardi sie nennt, wusste der Sohn als feiner Humanist wohl umzugehen, während die eilige Mutter nicht darnach fragte. Aber bei beiden gleich subjektiven Naturen war das Dichten eine rein autobiografische Angelegenheit, eine Selbstbefreiung im persönlichen Lebensraum ohne den Trieb der Verwandlung ins Überpersönliche und ohne Richtung auf Weiterentwicklung im künstlerisch Gegenständlichen, wozu ihm auch die Zeit fehlte.
Alfred, der Drittgeborene, ein kleiner Berserker an Kraft und Gewalttätigkeit, war mein geschworener Feind und konnte mir während der Flegeljahre, die bei ihm über die normale Zeit hinaus dauerten, nie genug Schabernack antun. Sein höchster Trumpf war, mich irgendwie vor Fremden in Verlegenheit zu bringen und bloßzustellen. Ich hielt ihn darum für einen wahren kleinen Teufel, während er das treueste liebevollste Herz hatte und nur der dunkle Knabentrotz gegen das von ihm verachtete andere Geschlecht so wild in ihm rumorte. Auch sein Charakterbild ist von mir nach seinem Hingang in meinen »Florentinischen Erinnerungen« gezeichnet worden. Züge aus seiner unbändigen Knabenzeit habe ich zuletzt noch dem wilden Roderich in »Vanadis« mitgegeben. Zwischen diese zwei Brüder als einzige Schwester durch die Geburt hineingeworfen, fiel es mir zu, die beiden Gewaltsnaturen, die ihre jahrelange Fehde täglich in Abwesenheit des Vaters am Mittagstisch auskämpften, auseinanderzuhalten, wobei leicht Püffe, die sie sich gegenseitig zudachten, ohne ihr Wollen die Friedensstifterin trafen. Die Sabinerinnen, die sich zwischen die zwei kämpfenden Heere warfen, waren mir daher schon in früher Tugend eine sehr geläufige Vorstellung.
Der dritte Bruder Erwin, bildhübsch und liebenswürdig, war ein lustiger Junge, der allem Unangenehmen aus dem Wege und dem Angenehmen nachging; er stritt niemals mit den Geschwistern, kam aber als Helfer auch nicht in Betracht. Sein heiteres Künstlerblut suchte die Sonnenseite des Lebens und entzog sich den häuslichen Stürmen, die leicht ins Gefährliche ausarteten und mir die Jugend tief verdüsterten. Eigen hat es das Schicksal gefügt, dass gerade dieser kleine Genüßling, von dem alle glaubten, dass er auf leichten Füßen durch ein sonnenfrohes Dasein gehen würde, in schweren Lebenskämpfen zu einem Charakter von eherner Willensstärke und Selbstverleugnung geschmiedet werden sollte.
Der jüngste war unser vielgeliebter Balde, 1860 im Monat der Einnahme von Palermo geboren und deshalb von der Mutter, die eine feurige Garibaldischwärmerin war, mit dem Namen ihres Lieblingshelden benannt, was Vater zugab, weil Garibald (Speerkühn) ein langobardischer Name sei. Im Gebrauch aber wurde Garibaldi in Balde verkürzt, und ich brachte seiner langen Kindlichkeit wegen noch den zärtlichen Necknamen »Bemper« für ihn auf, den er sich halb lachend, halb schmollend eine Zeit lang gefallen ließ und mit dem er häufig im Briefwechsel der Familie erscheint.
Er war eine rührend holde Menschenblüte von edelster Mischung, aber durch einen Herzfehler, dessen Ursprung auf eine akute Erkrankung im fünften Jahre zurückging, zu kurzem und verkümmertem Leben bestimmt. Für ihn gab es weder regelrechten Schulbesuch noch irgendeine Jugendfreude. Er hatte nichts als seinen inneren Reichtum und die unermüdliche Hingabe seiner Mutter, die alle seine Leidensnächte mit ihm verbrachte, am Tage mit ihm las und ihm half sich durch Selbststudium zu bilden. Dieses langsame aber unausweichliche Hinsterben, das die Mutter nach sich reißen zu müssen schien, nahm auch meiner Jugend das Sicherheitsgefühl und ließ mich immer auf den schweren Schlag gefasst sein. Das Siechtum des allgeliebten Jüngsten wurde der Hauptanstoß zu der Übersiedlung der ganzen Familie nach Italien, weil man von dem südlichen Klima zwar keine Heilung, aber einen Stillstand des Leidens erhoffte.
Inmitten dieser Familie stand als das A und O, worin alles beginnt und endet, das unbegreiflichste aller Frauenwesen, von dem man nie aufhören könnte zu erzählen, ohne je damit fertig zu werden, meine Mutter. Auf allen meinen Erinnerungsblättern ist von ihr die Rede, abgesehen von dem ihr eigens gewidmeten kleinen Büchlein mit den Proben ihrer Gedichte. Dennoch lässt sich kein Stück Vergangenheit zurückrufen, ohne dass sie wiederum dabei zugegen wäre, mit solcher Schicksalsmacht hat sie das Leben aller von ihr Geborenen durchwaltet. Sie hätte können – nicht nach dem äußeren Auftreten, das so anspruchslos wie möglich war, aber nach der von ihr ausgehenden Wirkung und nach der grandiosen Einfachheit, womit ihr inneres Saitenspiel gebaut war – zu jenen urzeitlichen Frauen gehören, von denen Bachofen spricht. Auch gegenüber dieser einzigen Gestalt bin