Isolde Kurz

Gesammelte Werke


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vor­wer­fen woll­te, mich in mei­nen zar­ten Jah­ren so we­nig ge­schont zu ha­ben, so muss­te ich mir doch gleich sel­ber ent­geg­nen, dass ja auch sie es war, die mir als ihr Blut­s­er­be die Spann­kraft mit­ge­ge­ben hat­te, die schwers­ten Din­ge auf­zu­he­ben und in einen leich­teren Luf­traum mit hin­auf­zu­neh­men: aus der vä­ter­li­chen Erb­mas­se al­lein wäre mir die­se Fä­hig­keit nicht ge­kom­men. So blieb ich doch im­mer mei­nem Va­ter dank­bar, dass er, statt mir eine ge­wöhn­li­che schwä­bi­sche Haus­frau zur Mut­ter zu ge­ben, sich das selt­sa­me Geist­we­sen aus ei­nem an­de­ren Rei­che, Ma­rie von Brun­now ge­nannt, zur Le­bens­ge­fähr­tin ge­wählt hat. Ge­sch­ah es in vor­ge­burt­li­cher Voraus­sicht mei­ner Auf­ga­be, dass mich die bei­den, wie mir mei­ne Mut­ter oft er­zählt hat, ganz be­wusst mit al­len in­ne­ren und äu­ße­ren Merk­ma­len, so und nicht an­ders, ins Le­ben rie­fen? Und dass ich, noch im un­ge­form­ten See­len­stoff we­bend, hör­te und dem Ruf ent­sprach, hat das nicht am Ende wirk­lich so sein müs­sen?

      Denn auch zwi­schen ihr und ihm stand ich als die na­tür­li­che Ver­bin­dungs­brücke. Ihre ver­göt­tern­de Lie­be, die im­mer angst­voll an sei­nen Au­gen hing, konn­te ihm nur das Eine nicht ge­ben, das sie sel­ber nicht be­saß, Ruhe und Har­mo­nie, de­ren der Dich­ter­ge­ni­us be­darf. Ich hat­te ge­nug vom We­sen bei­der in mir, um ihn wie sie zu ver­ste­hen. Da­für hat­te mir die Na­tur schon ein äu­ßer­li­ches Zeug­nis auf­ge­prägt, in­dem sie mir in der lin­ken Hand­flä­che eine ge­naue Wie­der­ho­lung der zahl­rei­chen, zar­ten, viel­ver­äs­tel­ten und viel­durch­schnit­te­nen Li­ni­en sei­ner bei­den Hän­de mit­gab, worin sein höchst ver­fei­ner­tes Ge­müts­le­ben und sei­ne von Ge­gen­ge­wal­ten durch­kreuz­te Lauf­bahn ihr schwer­mü­ti­ges Sie­gel wie­sen. Die von der Mut­ter stam­men­den Li­ni­en der Rech­ten, die we­ni­gen, ein­fa­chen, lan­g­aus­lau­fen­den, wur­den als Schwung und Kraft und Freu­de ge­deu­tet. Mein Va­ter, der auf alle ge­hei­men Ru­nen­zei­chen ach­te­te, ent­deck­te als ers­ter in mei­nen Kin­der­händ­chen das selt­sa­me Na­tur­spiel, ohne nach der Aus­le­gung zu su­chen, die ich erst viel spä­ter durch Si­byl­len­mund emp­fing. Die­se zwei ge­gen­sätz­li­chen Blut­mäch­te ha­ben dann auch ab­wech­selnd mein Le­ben re­giert, frei­lich nicht in der gr­und­ein­fa­chen Wei­se, dass mir von der einen Sei­te al­les Freu­di­ge und Lich­te, von der an­de­ren al­les Dunkle und Tie­fe ver­erbt wäre, denn auch mein Va­ter war von Hau­se aus ein Son­nen­mensch und nur durch die Un­gunst ei­ner schwäch­li­chen und ärm­li­chen Zeit, die die Wucht sei­ner Muse nicht tra­gen konn­te, ge­trübt und ge­hemmt wor­den, und and­rer­seits war die Mut­ter nicht blo­ße Ur­kraft, nicht blo­ßes Schwungrad, son­dern eben­so schmerz­vol­le Lie­be, Ma­ter do­lo­ro­sa und Mit­trä­ge­rin al­les Men­schen­leids. Also wa­ren die Blut­strö­me der bei­den schon je­der in sich selbst wi­der­spruchs­voll, be­vor sie sich in mei­nen Adern zu neu­em, noch wi­der­spruchs­vol­le­rem Blut­ge­bil­de misch­ten. Wir alle sind ja nicht wir, son­dern hän­gen mit un­se­rem Sein und Tun von de­nen ab, die vor uns wa­ren.

      Es hat wohl nie ein Fa­mi­li­en­haupt ge­ge­ben, das we­ni­ger von den An­ge­hö­ri­gen for­der­te als mein Va­ter. Die­ses We­ni­ge: Ein­schwin­gen in sei­nen Rhyth­mus, Sich­ein­füh­len in sei­ne au­gen­blick­li­chen Ge­müts­be­dürf­nis­se, konn­te er nur bei der Toch­ter fin­den, die schon als Kind die Ei­gen­heit hat­te, die See­len­schwin­gun­gen der an­de­ren in sich nach­zit­tern zu füh­len. Die Söh­ne in ih­ren Ent­wick­lungs­kri­sen wa­ren zum Ein­ge­hen in ein an­de­res In­nen­le­ben nicht ge­eig­net. Wenn ich lei­se in sein Zim­mer trat, glänz­te er auf, mei­ne Hand auf sei­ner Stir­ne nahm ihm den Kopf­schmerz weg, mit mir am Arm durch die Stra­ßen zu ge­hen mach­te ihn se­lig, denn mein Müt­ter­lein mit ih­rer stür­zen­den Ge­schwin­dig­keit und dem be­trächt­li­chen Grö­ßen­un­ter­schied zwi­schen ihr und dem hoch­ge­wach­se­nen Gat­ten konn­te nicht Schritt hal­ten. Als ich ein Jahr vor sei­nem Tod nach drei­mo­na­ti­gem Auf­ent­halt in Frank­reich wie­der dem Rauch des Heim­we­sens ent­ge­gen dampf­te, hielt er es in der Er­war­tung nicht aus, er muss­te mir zu Fuß bis Reut­lin­gen ent­ge­gen­ge­hen, um mich eine hal­be Stun­de frü­her in die Arme zu schlie­ßen. Wohl in noch hö­he­rem Gra­de als sie be­durf­te er mei­ner, doch hat­te er nichts For­dern­des und war­te­te scho­nend ab, was Kin­des­lie­be ihm ge­ben soll­te. Aber wie viel zwin­gen­der ist doch die Bin­dung an den Schoß, der uns ge­tra­gen, an die Brust, die uns ge­nährt, an die Hand, die un­se­re ers­ten Schrit­te ge­lei­tet hat, als an das vä­ter­li­che Haupt, wie ver­eh­rungs­wür­dig es auch sei. Ich kann mich von dem Vor­wurf nicht frei­spre­chen, ihm we­ni­ger Zeit ge­wid­met zu ha­ben, als ihm wohl­ge­tan hät­te. Nur dass ich in sei­nem letz­ten Brief­wech­sel mit Paul Hey­se sei­ne An­ti­go­ne hieß, weil ich ihn auf Wan­de­run­gen schein­bar sorg­los zu um­sor­gen wuss­te, trös­te­te mich spä­ter über man­ches Ver­säum­nis, des­sen Dorn ich im Her­zen trug.

      Auch bei der po­li­ti­schen Mei­nungs­ver­schie­den­heit, die durch den deutsch-fran­zö­si­schen Krieg in die Ehe der bei­den Achtund­vier­zi­ger ein­drang, hielt mein Da­zwi­schen­ste­hen den in­ne­ren Riss zu­sam­men. Denn mei­ne Mut­ter, die Of­fi­zier­s­toch­ter, ver­ab­scheu­te das Waf­fen­werk und sah in je­dem Krieg nur im­mer eine Schläch­te­rei; einen ge­rech­ten Krieg konn­te es für sie über­haupt nicht ge­ben, am we­nigs­ten, wenn der Ho­hen­zol­lern­fürst, der die Re­vo­lu­ti­on blu­tig nie­der­ge­wor­fen hat­te, an der Spit­ze stand. Mein Va­ter, der Dich­ter, des­sen Se­her­blick über die Jahr­hun­der­te hin­ging und tief in die Völ­ker­see­len ein­drang, er­griff den ge­schicht­li­chen Au­gen­blick und be­grüß­te als höchs­te Wun­sch­er­fül­lung das neu­ge­bo­re­ne Reich, »nicht ein rö­mi­sches Reich deut­scher Na­ti­on, ho­hen und hoh­len Klangs von ehe­dem, son­dern zum ers­ten Mal im Lauf der Ge­schich­te ein deut­sches Reich«. Es hat­te schon über sei­nen Kna­ben­jah­ren als un­greif­ba­re Herr­lich­keit und Hei­lig­keit ge­glänzt in Ge­stalt der al­ten Reichs­ad­ler, die sei­ne kurz zu­vor noch reichs­un­mit­tel­bar ge­we­se­ne Va­ter­stadt Reut­lin­gen auf­be­wahr­te. In die­se Er­kennt­nis­tie­fe konn­te ihm sei­ne Gat­tin nicht fol­gen; für sie gab es kei­ne ge­schicht­li­che Wirk­lich­keit, nur das Prin­zip, das ja schon mit ihr ge­bo­ren war und sich, so­bald es ihr von ih­rem Haus­leh­rer auch be­griff­lich na­he­ge­bracht wur­de, blitz­ar­tig und für im­mer mit ih­rem Be­wusst­sein ver­band. Da­bei über­sprang sie das Na­tio­na­le zu­guns­ten ei­ner künf­ti­gen Mensch­heits­ge­mein­schaft; ihre Söh­ne im Gä­ren der Ju­gend teil­ten mehr oder we­ni­ger ihre Den­kart. Ihr zer­riss es das Herz, an­ders füh­len zu müs­sen als der Mann den sie an­be­te­te, aber was sie für wahr hielt, konn­te sie we­der ab­leug­nen noch un­ter­drücken. Mein Va­ter ver­mied Er­ör­te­run­gen und tat was sein Ge­wis­sen for­der­te, in­dem er in der Öf­fent­lich­keit für sei­ne Über­zeu­gung ein­trat, die für ihn kein Bruch mit sei­ner re­vo­lu­tio­nären Ver­gan­gen­heit war, son­dern nur die Um­bie­gung des all­zu hoch ge­spann­ten Wunsch­ziels ei­ner groß­deut­schen Re­pu­blik in das Er­reich­ba­re: ein Deutsch­land ohne Ös­ter­reich. Der Süd­deut­sche, der wäh­rend des Bru­der­kriegs mit gan­zer See­le auf sei­ten Ös­ter­reichs ge­stan­den hat­te, muss­te die­ses edle Glied am Lei­be des neu­en Rei­ches schmerz­lich ver­mis­sen, aber die Wie­der­ver­ei­ni­gung des Ge­trenn­ten blieb ihm »der si­che­re Zu­kunfts­ge­dan­ke«, des­sen Ver­ta­gung die Le­bens­kraft der Ge­gen­wart nicht be­ein­träch­tigt. In sei­nen frü­hen Schrif­ten fin­den sich die Wor­te