ein Damm zwischen sie geschoben war, an dem die Gegensätze sich verlaufen konnten. Ich war freilich zu jung und historisch zu unvorbereitet, um die ungeheure Bedeutung der Bismarckschen Schöpfung klar zu begreifen, und mein Vater enthielt sich jeder Beeinflussung, selbst durch ein geschichtlich belehrendes Wort. Aber anderseits war ich von Natur vollkommen unzugänglich für Parteischlagwörter. »Nation« erschien mir auch gefühlsmäßig nicht als Verinselung, sondern als würdige Brücke zu einer größeren Gemeinsamkeit, wodurch die elterlichen Standpunkte gewissermaßen in mir versöhnt waren. Das Familienleben wurde nicht gestört, die Unstimmigkeiten mit Duldung zugedeckt.
Drittes Kapitel – Kindesseele und Überwelt
Nah ist
Und schwer zu fassen der Gott,
Wo aber Gefahr ist, wächst
Das Rettende auch.
Hölderlin
Ich weiß nicht, ob mein Vater mit der Art, wie seine Gattin kraft ihrer Zurückeroberung jenes vorzeitlichen Mutterrechts die religiöse Frage für seine Kinder löste, indem sie sie kurzerhand abschnitt, innerlich durchweg einverstanden war. Da ich nie ein Wort darüber von ihm hörte, nehme ich an, er habe auch auf diesem Punkte wie auf allen anderen maßvoller, weniger umstürzend gedacht, aber doch im ganzen grundsätzlich ihre Haltung nicht missbilligt. Meine Mutter aber, die im Grunde eine tiefreligiöse Natur war, verwarf lange vor Nietzsche, dem Pastorensohn, mit dem gleichen Nachdruck wie er das Christentum, und aus der gleichen Ursache: wegen der Vergewaltigung des Gewissens. Ich habe in meinem »Jugendland« erzählt, wie sie aus Anlass der ersten Kommunion tagelang verzweifelt umherirrte in Gewissensangst, ob sie nicht etwa den heiligen Leib unwürdig genossen habe, und wie sie, um die gleiche Qual ihren Kindern zu ersparen, diese solange wie möglich von der Bekanntschaft mit den Mysterien des Christentums entfernt hielt, was bei der Tochter, die keine Schule besuchte und außer dem Haus gar keinen Umgang hatte, leicht durchzuführen war.
Das Beispiel meiner Mutter ist mir ein Beweis, dass ganz unduldsamer Glaube und ebensolcher Unglaube nur eine winzige Spanne voneinander wohnen können: es fragt sich bloß, wohin der Wind die Flamme wehen wird. Dieselbe Frau, die ein gelehrter Freund die sancta athea nannte, hätte in sich auch das Zeug zu einer Fanatikerin des Glaubens, ja zu einer christlichen Märtyrerin gehabt. Aber der geistige Wind wehte nach der anderen Seite. Als die damalige Konfirmandin ihrem um vieles jüngeren Schwesterchen Ottilie ihre Zweifelsqualen anvertraute, zeigte sich’s, dass das Kind schon durch die gleichen Nöte gegangen und zu demselben Nein gekommen war. Es soll dies nach Josephinens Schilderung ein stilles, sanftes, tiefgründiges Kind gewesen sein und von der Natur zu solcher Frömmigkeit angelegt, dass ihre rührende Erscheinung mir als das Urbild des frommen Estherchens in »Vanadis« vorschwebte. Sie wurzelte im Übersinnlichen und soll auch in ihren letzten Fieberträumen die Stunde ihres Todes vorausgenannt haben. Gleichwohl hatte die Stille, Zarte trotz ihres kindlichen Alters, ebenso wie ihre stürmische ältere Schwester und unbeeinflusst von dieser, das überkommene Dogma abgelehnt. Und was ist denn, um ein äußerstes Beispiel zu nennen, die Gottlosenbewegung in Russland anderes als die Umkehrung des religiösen Orgiasmus, der diesem Volke eigen war und der in Rasputin zuletzt noch seinen stärksten Ausdruck gefunden hat?
Ich war ein viel zu fürwitziges Kind, als dass ich nicht gesucht hätte, dem was mir vorenthalten wurde, auf anderem Wege nachzugehen. Neun- oder zehnjährig holte ich mir aus Vaters Bücherschrank heimlich die Lutherbibel und verbarg sie in meinem Bett, um darin zu lesen, so oft ich mich unbeobachtet sah. Im Alten Testament hielt ich mich nicht auf, seine harten und oft recht anfechtbaren Gestalten fanden neben der leuchtenden griechischen Mythe keinen Platz; es war wohl der Schutzgeist des unbewachten Kindes, der es so schnell an all den Bedenklichkeiten vorüberführte. Auf der Frühlingswiese des Neuen erging ich mich lieber und wartete, ob der himmlische Gärtner nicht auch zu mir komme. Aber ich hätte wie Semele gewollt, dass der Gott sich mir in seiner Göttlichkeit enthülle, dass er strahlend einhertrete und wie ein Bruder bei meinen anderen geliebten Göttergestalten stehe; und das geschah nicht. Mein Kinderherz war wohl willig, seine Lehre auch so aufzunehmen, allein es wusste nicht wohin damit. Das stete Reden in Gleichnissen befremdete mich und ließ meine Hände leer. Gleichwohl fuhr ich fort, mich als eine angehende Gläubige zu betrachten und nahm mir vor, auf diesem Wege zu beharren. Dass ich es so ganz verstohlen trieb wie eine heimliche Sünde, beklemmte mich zwar einigermaßen, bis ich auf die Mahnung stieß, der Fromme solle seine Frömmigkeit nicht zur Schau tragen, sondern nur ungesehen in seinem Kämmerlein beten. Obgleich dies auf meinen Fall nicht passen konnte, was mir auch leise bewusst war, beschloss ich doch den Wortlaut für gut zu nehmen und mich dabei zu beruhigen. Da befand ich mich eines Tages in einem Kreis von freireligiös erzogenen Kindern, die Gehörtes missverstehend sich über den Aberglauben der christlichen Lehre lustig machten. Gleich fasste mich ein kleines Rauschteufelchen, dass ich einstimmte und übermütig mit den Wölfen heulen musste. Als ich mich wieder besann, erkannte ich mich mit Schrecken als eine Verworfene, mein Werben um den Gottmenschen fortan zwecklos und mein Heil für immer verwirkt. Nun wagte ich den Rückweg in die Gefilde des Glaubens, die ich mir selbst verschlossen hatte, gar nicht mehr zu suchen, und nahm mir nur vor, künftig ohne das alles in Tun und Reden ein besserer Mensch zu werden. Vielleicht gab es noch andere Wege, worauf einen das Göttliche finden konnte. Hätte ich in der Passionsgeschichte damals weitergelesen und wäre bis zu Petrus und dem Hahnenkraht gekommen, so würde ich wahrscheinlich aus dem bösen Beispiel des Apostelfürsten mildernde Umstände für mich selber abgeleitet haben. So aber blieb mir ein bitterböser, mich tief beschämender Eindruck haften wie immer, wenn ich mich auf irgendeinem Punkt nicht in Einklang mit mir selber fühlte, und ich nahm jahrelang das Buch der Bücher nicht mehr in die Hand, als ob ich es zum Schauplatz eines Verbrechens gemacht hätte. Aber war es wirklich nur Mangel an Bekennermut? muss ich mich nachträglich fragen. War es nicht auch zum guten Teil jene Scham des Herzens, die mich so oft abhielt, allzu werte Namen auszusprechen und mich lieber andere, unwichtigere vorschieben ließ, nur um nichts mir Heiliges zu entweihen? – Der Knabe Dante, der um die Neugier von seinem Gefühl für Beatrice abzulenken, einer Anderen, Gleichgültigen huldigte, fand bei mir ein offenes Verständnis.
Wenn ich es meiner Mutter zuweilen im stillen verargt habe, dass sie auf diesem Punkt wie auf manchem anderen im