geworden waren. Ich meinerseits befand mich in noch größerer Raumbedrängnis: mein schönes Zimmer, für das ich den bescheidenen Mietbetrag in die Haushaltkasse legte, ließ sich von dem lärmenden Betrieb nicht freihalten und wurde immer weniger mein; kam dann gar noch ein auswärtiger Besuch, wie unsere Hedwig Wilhelmi aus Granada,1 die sich in der Erinnerung an die unbegrenzte Gastfreundschaft unseres Hauses in Tübingen nicht damit abfinden konnte, in Florenz ein Stockwerk höher in einer Pension zu schlafen, so blieb mir nichts übrig als zu weichen. Ich musste mein Zimmer abtreten und mich in der Nachbarschaft einmieten. Dabei hatte ich aber von dem vorübergehenden Alleinsein und der Stille in dem fremden unwirtlichen Raum keinen Gewinn, weil sich dorthin doch nur Fronarbeit mitnehmen ließ; zwischen die kahlen getünchten Wände, wo fast nur für das italienische Riesenbett und den Waschtisch Platz war, mochten die Musen nicht gerufen sein. Und wenn ich gelegentlich über solche kritischen Zeiten nach San Francesco oder in das Guerrierische Freundeshaus eingeladen wurde, so genoss ich wohl den Zauber einer feinen geistigen Geselligkeit, aber zur Vertiefung in ein stilles schöpferisches Tun war dabei erst recht nicht zu gelangen. Einmal hatte ich mich im Vorfrühling in einer schönen, oberhalb der Stadt gelegenen Villa eingemietet, wo ich eine Zeit lang ganz allein bei Krokus und Anemonen zu hausen gedachte. Da fiel ganz unerwartet Schnee, Schnee in Menge; sämtliche Räume des nach Norden blickenden Hauses waren nach guter alter Florentiner Sitte unheizbar, und als ich einige Tage eigensinnig am Schreibtisch gefroren hatte, bis mir die Finger erstarrten, trat ich einen enttäuschten Rückzug an. Da fand ich zu meiner Überraschung mein Zimmer und Bett von einer lieben Bekannten, einer feinen Holländerin, eingenommen, die mein Mitgast im Hause Guerrieri gewesen und der ich oft meine Not wegen meines Zimmers geklagt hatte. Sie war nervenleidend und hatte vor wenig Tagen bei einem Besuch im Sprechzimmer ihres Arztes einen Nervenzusammenbruch erlitten, weshalb meine Mutter sie gleich in mein Bett gelegt und seitdem da gepflegt hatte. Décidément, vous n’aurez jamais votre chambre, sagte sie mit melancholischem Lächeln, als ich vor dem Schneegewirbel heimgeflüchtet kam. Ähnliche Vorfälle wiederholten sich in der Tat so oft, dass man sie für verhängt ansehen konnte, und ich war jedes Mal beschämt, dass wir kein Gastzimmer anzubieten hatten. Es wurde mir weh zumute, als ich die Kranke, von dem Marchese selber abgeholt, durch zwei Männer auf einem Stuhl die Treppen hinuntertragen sah, ich hätte ihr so gern die Nähe ihres ärztlichen Helfers gegönnt, denn gewöhnlich meinten Edgars Patienten, und mehr noch die Patientinnen, schon von der Luft, worin er atmete, gehe das Heil aus.
Weil alles Suchen nach der passenden Wohnung vergeblich war, tauchte der Gedanke auf, ein eigenes Haus zu kaufen. Bevor der Entschluss aus der Raumnot reifte, ereignete sich noch ein wunderlicher Zwischenfall: nichts Geringeres als ein Zusammenstoß mit dem damaligen preußischen Thronerben, dem späteren Kaiser Wilhelm II.
Kamen da eines frühen Nachmittags, als Mama sich allein auf der den Zimmern vorgelagerten Diele befand, die in den praxisfreien Stunden auch der Familie zum Aufenthalt diente, zwei jüngere Herren angefahren und verlangten stürmisch nach dem Doktor. Mama hatte ihnen selbst geöffnet und sie in das kleine, freilich sehr kleine Wartezimmer zwischen den Doktorsräumen und meinem Zimmer geführt. Der scharfe preußische Akzent der Herren, der den Norddeutschen eigene stoßende Sprechrhythmus und die straffen, wie am Draht gezogenen Bewegungen erregten sofort den inneren Widerspruch ihres antipreußischen Herzens, und da einer der beiden ungeduldig hin und herlief, alle Türen aufriss, auch die meinige, die ich sogleich höflich wieder schloss, ging ihr dieses Gebaren so auf die Nerven, dass sie den heimkehrenden Sohn mit der Nachricht empfing, es seien zwei unausstehliche Preußen da, die rücksichtslos durch alle Zimmer tobten. Der gleichfalls nervöse Edgar, der schon den ganzen Tag auf Krankenbesuch gewesen war und noch nichts zu sich genommen hatte, trat auf diese Mitteilung hin schon geladen in die geladene Atmosphäre des Warteraums. Dort wurde er gleich mit dem Vorwurf empfangen, dass man eine halbe Stunde auf sein Erscheinen gewartet habe. Er bemerkte wohl, dass einer der Herren ihm Zeichen zu machen und den anderen, ungeduldigen, zu beschwichtigen suchte, sodass er hinter diesem eine hochgestellte Persönlichkeit vermuten konnte; er entgegnete jedoch trocken, zum Warten sei das Wartezimmer da. Als ihm nun angekündigt wurde, dass der Wagen unten stehe, um ihn sofort zu einer kranken Dame ins Hotel mitzunehmen, antwortete der junge Arzt, der begriff, dass er es nicht mit einem schweren Fall, nur mit einem verwöhnten Kunden zu tun hatte, einen Wagen besitze er selbst, er habe aber zunächst seine Sprechstunde abzuhalten, danach mache er seine Krankenbesuche, und zwar nach der Reihe, immer die schweren Fälle zuerst. Sein Ärger über den hochfahrenden Ton des Fremden milderte sich aber, als er an dem Bette einer hübschen und liebenswürdigen jungen Frau stand, die wie viele Italienfahrer in dieser Jahreszeit an unvorsichtigem Obstgenuss erkrankt war, sich indessen schon in der Besserung befand. Der junge Ehemann wollte wissen, wann die Weiterreise nach Rom stattfinden könne, worauf der Arzt gelassen antwortete, sobald es gewünscht werde, wenn nötig, noch am selben Tag, aber besser am nachfolgenden. Es war seine Art, kleine Übel so obenhin zu behandeln, wie er es bei sich selber hielt, und darin machte er für niemand eine Ausnahme. Auf der Treppe trat ihm der Direktor des Hotels, dem schon ein Vöglein diese Unterredung zugesungen hatte, mit Vorwürfen entgegen: Doktor, Doktor, was haben Sie mir angestellt! Ist Ihnen denn gar nichts an dem Herrn aufgefallen? Edgar antwortete, es sei ihm freilich aufgefallen, dass der Herr einen verkürzten Arm habe, und er könne sich auch denken, welchem Hohenzollern der Arm gehöre. – Wie konnten Sie ihm dann raten, abzureisen? Jeder andere hätte mir die junge Frau auf ein paar Wochen ins Bett gelegt. Wenn Sie Ihre Praxis so auffassen, werden Sie es nie zu etwas bringen.
Unterdessen hatte Edgar schon sein Auge auf die hübsche kleine Stadtvilla in der Via delle Porte nuove zwischen der Porta al Prato und den Festungsanlagen geworfen, einen anmutigen Bau mit langgestrecktem Mittelstück und zwei vortretenden Seitenflügeln, durch einen wohlbewachsenen, von hohen Lorbeerwänden umschlossenen Garten von der Straße geschieden. Der Preis war nicht zu hoch, betrug aber doch das Doppelte von seinen verfügbaren Ersparnissen. Er wandte sich an einen Stuttgarter Jugendfreund um ein verzinsliches Darlehen; aus der zurückhaltenden Antwort sprach aber so viel Bedenken, dass der Leichtverletzte darin den Vorwurf eines unbesonnenen Wagestücks zu lesen glaubte, den er nach den Proben, die er von sich gegeben, nicht erwartete. Er brach sogleich die Verhandlungen