Boden. So wenig wie er in seinem Gebiet wusste ich in dem meinigen von Richtungen, Strömungen, »Ismen« aller Art, ich kam mit keinem Tagesgestirn in Berührung, das mich hätte in seine Bahn ziehen können, noch lief ich Gefahr, von einer der vielen literarischen Gemeinden eingesaugt zu werden, deren Dasein ich nicht einmal kannte. Also blieb ich allein, unabwendbar und vollkommen allein, ohne Vorgänger noch Hintermann, und sollte es mein Leben hindurch bleiben.
Nach der Abreise Althofens wurden die florentinischen Studien mit unvermindertem Eifer fortgesetzt. Winter und Sommer wanderte ich zur Bibliothek, wo ich an dem einzigen Damentisch fast immer allein saß und mich durch eine Unzahl von Wälzern hindurcharbeitete, während der Austausch über das gemeinsame Vorhaben mit dem abwesenden Teilhaber brieflich weiterging. Als er im Spätsommer sich wieder einstellte, waren die Vorarbeiten zu Stapeln aufgehäuft, und ein Kapitel über die Anfänge des Hauses Medici war auch fertig geschrieben. Wie wurde mir aber, als nun der Freund in meinem Arbeitszimmer neben mir sitzend, während ich ihm das Geschriebene vorlas, wie geistesabwesend mit dem Stift auf einem Blatt Papier italienische Prachtvillen zu zeichnen begann, unter einer tropischen Pflanzenfülle, die wuchs und wucherte und zuletzt den Bau wie ein drohendes Element umzüngelte, bis unten am Abschluss der Prunktreppe an Stelle der Blumenschale oder Steinfigur ein Totenkopf entstand, der die Züge des Zeichners trug. Dass mein entsetzter und empörter Aufschrei ihn erst zu sich zu bringen schien und er versicherte, ganz unbewusst gezeichnet zu haben, machte die Sache noch unheimlicher, obgleich ich ihm das nur halb glaubte. Auch im Vorjahr pflegte der Künstler unser Gespräch mit dem Stifte zu begleiten, aber da waren es anmutige Einfälle gewesen: Fruchtgewinde über Prunkportalen, schwankende Blumenketten von Amoretten getragen, spielerisch wie meine leichten Verse aus dem gleichen schönen Herbst. Auch seine Briefe waren manchmal nur ornamentale Fantasien über irgendein angeschlagenes Thema. Und jetzt an Stelle der liebenswürdigen Gewohnheit diese schaurige Spielerei. Aus der charaktervollen Schönheit seines Kopfes hatte er mit dem scharfen Künstlerauge die Umrisse des Schädels herausgeholt und gefiel sich darin, sie in immer neuer Anwendung abzuwandeln, denn immer wieder kam in landschaftlichen oder dekorativen Zeichnungen irgendwo im innersten Geschlinge und ebenso in der Namensunterschrift, wenn auch noch so klein, ein Totenkopf – der seine – zum Vorschein. Auch die Sucht, alles Traurige und Unheimliche, was es geben konnte, sich selber zuzueignen, bei jeder Gelegenheit mit dem Schicksal zu würfeln, wie um schlimmeren inneren Gefahren zu entgehen; der Hang, sich in zwei Personen zu spalten und sich diebisch zu freuen, wenn die Umgebung nicht mehr wusste, wen sie vor sich hatte, bis er sich mit wildem Lachen die Maske wieder abriss, das alles führte in ein Wirrnis zwischen Wahn und Wirklichkeit hinein, aus dem kein Ausweg war und das die Zusammenarbeit zum Anlass steter Beunruhigung machte. Zwar wirkte der künstlerische Ernst und der strenge Fleiß immer wieder versöhnend und gab Hoffnung, dass die Verstörung sich legen werde, aber schon am nächsten Tag waren alle Beschwichtigungen zunichte. »Wen ich einmal mir besitze, dem ist alle Welt nichts nütze.« Da ich bemerkte, dass der wilde Gast sich in Männergegenwart weniger gehenließ und leichter über seine selbstzerstörerischen Grillen wegkam als unter Frauen, auf deren Nachsicht er rechnen zu dürfen glaubte, beschloss ich nach dem heißen Sommer noch für kurze Zeit ans Meer zu gehen und mich dadurch den täglichen Bedrängnissen zu entziehen. Wogegen Edgar versprach, sich unterdessen des verstörten Geistes anzunehmen, ihn auch womöglich in zerstreuende Gesellschaft zu bringen. Er hielt sein Wort und nahm ihn fast täglich in seinem neuen schönen Wagen auf seine Berufsfahrten durch die Campagna mit, deren belebende Frische dem Angegriffenen wohltuender war als es die aufpeitschende Meerluft hätte sein können, um die er mich beneidete, von der ihn jedoch Edgar durch immer neue Einladungen ins Grüne zurückhielt. Ich schwamm und ruderte indessen in der Bucht von Lerici, und als ich nach vierzehn Tagen gebräunt und neugeboren zurückkam, waren die bösen Geister ausgezogen. Der Zurückgebliebene konnte mir einige von ihm entworfene Bildbeigaben zu meinen Textentwürfen vorlegen, und ich verehrte ihm zum Dank ein künstlerisches Erbstück des Hauses, das mir Mama zu diesem Zwecke überließ: das Bildnis meiner Urgroßmutter von Ötinger, von der Hand der Simanowitz, über dessen Verbleib ich nachmals nie wieder etwas erfuhr.
Achtes Kapitel – Unser Thole
Jetzt schiebt sich ein holdseliges Bild vor den dunklen Hintergrund meiner Erinnerungen. Ein neues Leben ist in der Familie für das erloschene aufgeblüht. Ein entzückender kleiner Junge mit Goldhärchen, der zu Besuch gekommen ist, hat sich’s auf meinem Schoße bequem gemacht und kaut an einer Kastanie (wir sind im Spätherbst 1883 und wohnen noch am Viale Margherita). Als er sie genügend durchgekaut und durchgespeichelt hat, nimmt er sie aus dem Mund und will sie freundlich in den meinigen stecken. Es ist unser kleiner Thole, Erwins Söhnchen, später unter dem Namen Otto Orlando Kurz als Schöpfer bedeutender Kirchen- und Profanbauten berühmt geworden. (Den zweiten Namen Orlando hatte ihm seine Großmutter im Hinblick auf meines Vaters Übersetzung des Orlando furioso hinzugegeben.) Ich nenne ihn hier mit seinem Kindernamen, wie er lebenslang im Familien- und Freundeskreis genannt wurde, da ich nur von seiner menschlichen Erscheinung erzählen will; von dem genialen Baumeister müssen die Fachgenossen sprechen. – Nach unserem Umzug in die Via delle Porte nuove, als seine Eltern mit uns das neue Haus teilten, wurde er mein täglicher beglückender Spielkamerad, dem ich meine »Tantenlieder« widmete. Mehr als alle Kinder, die ich jemals kannte, war er »Kind« in des Wortes unwiderstehlichster Bedeutung. Unendliche Zeit hat er mir abgeschmeichelt, unzählige Male mein Tun gestört, er brach mitten herein in meine heiligsten Arbeitsstunden; unmöglich, das Kerlchen abzuweisen, wenn es einen Schurz voll Spielsachen brachte und je und je ein zerbrochenes Stück davon großmütig mir schenkte. Jedes Wort und jede Bewegung war Liebreiz, der ebenso aus der liebenswürdigen Gemütsart wie aus der Anmut der beweglichen Gliederchen floss. Eines Morgens kam er splitternackt hereingesprungen und sagte strahlend vor Freude, indem er sein wohlgebautes Körperchen vor mir hin und her drehte: Sieh her, das alles hat mein lieber Papa gemacht! Er glaubte, sein Vater habe ihn ebenso wie seine anderen Werke auf der Drehscheibe modelliert. Köstlich war er anzusehen, wenn er im blauen Kittelchen mit über der Stirn geschnittenen Haaren durch den Garten lief, mächtig mit dem großen Strohfächer wedelnd, der in der Küche zum Feueranmachen diente und den er jeweils