wusste und der einen edlen Tropfen Weins auf der Zunge zergehen ließ wie einen Vers von Goethe. Wenn Hertz seine dunkle Stimme erhob, um sein Wort langsam und nachdrücklich ohne alles persönliche Schimmern in die Erörterung zu werfen, so war es, als hätten jetzt die Dinge selbst gesprochen und ihr wahres Wesen enthüllt, sodass gar keine Zweifel übrigblieben. Vor allem bewunderte ich den Gerechtigkeitssinn, mit dem er sich dem so leicht einreißenden Spott über Abwesende widersetzte. Er widersprach nur ungern und schonend; lieber erzählte er dann einen rühmlichen Zug aus dem Leben des Betroffenen, der diesen über jeden Angriff hinaushob. Hertz war mir ein glänzender Beweis, wie viel mehr Geist dazu gehört, die Vorzüge der Menschen zu sehen als ihre Fehler. Welch ein Meister der Geselligkeit er war, erfuhr ich freilich erst bei meinen späteren Aufenthalten, wenn ich an den Hertzschen Teenachmittagen teilnehmen durfte, die mir stets als Musterbeispiel edelster geistiger Bewirtung vorschwebten. Da war kein Ungefähr im Zusammenstellen der Gäste, alle verstanden und ergänzten sich, und nie ging die Zahl über die klassischen Neune hinaus. Der Hausherr hielt das Gespräch unmerklich in der Hand, dass es nicht zersplitterte und dass jeder der Geladenen sich nach seiner persönlichen Art entfalten konnte, während die Hausfrau ihn geräuschlos in den Pflichten des Wirtes unterstützte. Da wurde die Luft so hell und rein, und die verschiedenen Stimmen klangen wie ein Konzert ineinander, dass für einen Augenblick die Welt ganz Harmonie war. Und das müsste ja der Zweck jeder edleren Geselligkeit sein. Zum Schlusse erschien dann immer noch eine Flasche Sekt, und die Gäste trennten sich auf dem Höhepunkt der Stimmung, die noch tagelang nachklang.
Eine weitere sehr ausgeprägte Persönlichkeit war der nach allen Seiten frondierende Maler, Poet und Artillerieoberst Heinrich Reder, ein begabter, eigenwilliger Mann, der sich wegen gesellschaftlicher Unstimmigkeiten von seiner ehemaligen Tafelrunde, dem Heyse-Hornstein-Kreis, in einen Schmollwinkel zurückgezogen hatte, zu dem ich aber wegen seiner Freundschaft mit unserer spanischen Freundin den Zugang fand.
So war es also mit der gesellschaftlichen Anlehnung trefflich bestellt, und im übrigen hieß es abwarten. Ich hatte nach einigen Erfahrungen an Münchner Zimmervermieterinnen mit Erwin eine kleine leere Wohnung zu ebener Erde an der Ecke der Karls- und Luisenstraße bezogen, die wir selber einrichteten. Das Essen ließen wir uns aus einer nahen Wirtschaft holen, es kostete damals nur 50 Pfennig für die Person, war aber auch danach. Gelegentlich kam von Hause eine Schachtel mit einem großen, von Josephine geschmorten Braten, der uns auf mehrere Tage sättigte. Als ich mir in der Au eine durch Frau von Hornstein empfohlene Zugeherin besorgen wollte, erlebte ich gleich zum Einstand ein sehr bezeichnendes Stück Münchner Volkstum. Im tiefen Schnee der Straße kam mir eine Jammergestalt laut klagend entgegen, mit Schlappen an den Füßen, im allerdünnsten Kattunröckchen und ebensolcher Bluse, Kopf und Hals bloß. Sie rief mich an, ob ich kein Dienstmädchen brauchen könne, sie sei in schrecklicher Not und wolle mir gewiss treu sein, wenn ich mich ihrer annehme. Ich konnte zwar die Leidensgeschichte, die sie mir erzählte, nicht nachprüfen, nahm aber an, dass es meine Pflicht sei, sie zu retten. Also ließ ich die Gutempfohlene fahren und dingte die Zugelaufene, der ich außerdem noch 10 Mark Vorschuss geben musste, um ihren von der früheren Herrschaft – ich weiß nicht weshalb – zurückbehaltenen Koffer auszulösen. Sie schrieb mir ihren Namen auf einen Zettel, das war meine Sicherheit. Natürlich wurde ich von den befreundeten Damen weidlich ausgelacht, ich ließ mich jedoch nicht irremachen, und siehe, am bestimmten Tage stellte sich das Mädchen, ein spindeldürres, scheinbar gelbsüchtiges und auszehrendes Geschöpf, in anständiger Kleidung bei mir ein. Ich brachte sie bei einer benachbarten Kramerin unter, die ihr gleichfalls Arbeit gab, und sie bediente mich längere Zeit gewissenhaft und anhänglich. Sie war jedoch eine geborene Streunerin und wurde des trockenen Tones bald satt, also verschwand sie eines Nachts geräuschlos durch das Fenster, um, wie die Kramerin sagte, »mit den Maurern zu gehen«; sie hielt es scheint’s mit dieser ganzen Berufsklasse. Aber scheidend hatte sie noch für mich gesorgt, indem sie den Bäcker, die Milchfrau und andere Lieferanten beauftragte, mir morgens den Bedarf, den sie sonst abholte, vor die Tür zu stellen, ein Charakterzug, der mich mit ihrem Leichtsinn versöhnte.
In Erwartung meiner ersten Unterrichtsstunden brauchte ich nicht müßig zu gehen, sondern übersetzte in buchhändlerischem Auftrag die Geschichte der Kommune von Marx’ Schwiegersohn Lissagaray, wozu mir meine in Frankreich gesammelten Kenntnisse des Gegenstandes nützlich waren; für militärische Fachausdrücke beriet mich Oberst Reder. Allmählich fanden sich auch einige Schülerinnen ein. Die erste war eine baltische Baronin, die ich im Italienischen zu unterrichten hatte, eine Dame von sehr großem Stil, die deshalb zu meinem Erstaunen von der Gesellschaft für eine bedeutende Persönlichkeit angesehen wurde, nach deren häufigen Migränen man mich stets mit eifrigem Anteil befragte. Da sie mich oft weit über die Stunde hinaus festhielt, um sich über alles Erdenkliche auszusprechen, sah ich unter den schönen Verkehrsformen in eine geistig ganz unfruchtbare und schablonenhafte Natur hinein. Es war das erstemal, dass mir dieses Missverständnis der Gesellschaft begegnete, daher es meiner Indianerseele als merkwürdig auffiel.
Bei weitem anziehender war eine geistig regsame und selbstständige Schwedin, die sich bei mir im Deutschen üben wollte und die mir den Unterricht leicht machte, da ich mir nur von ihr den Faust und die Iphigenie vorlesen zu lassen und mit ihr über das Gelesene zu sprechen brauchte, wobei ich die Freude hatte, ihre Augen immer höher aufglänzen zu sehen. Sie bat sich von vornherein aus, dass ich sie im falschen Gebrauch der Artikel nicht stören dürfe, weil sie aus einer Familie stamme, in der bei hohem Bildungsstand niemand je mit dem Der, Die, Das zurechtgekommen sei. Ich war es zufrieden; die deutschen Sprachschnitzer meiner Schülerinnen klangen mir immer so drollig, dass es mir leid tat, sie schulmeisterlich berichtigen zu sollen. Noch besser verstand ich mich mit einer gleichaltrigen Amerikanerin, die sich ganz allein in Europa aufhielt, einem Geschöpf von kecker, knabenhafter Anmut, jungfrisch und so voraussetzungslos, als wäre sie eben aus dem Ozean gestiegen. Auch diese Liebenswürdige wollte, wie sie mir anvertraute, nichts als »ein Gespräch höheren Stils in deutscher Sprache führen lernen«, und der Unterricht bestand bei ihr wie bei der Schwedin darin, dass sie auf meinem Kanapee saß, um über Literatur und Verwandtes zu plaudern. Als sie entdeckte, dass auch ich ihre Lieblinge Burns und Byron liebte, war ihre Freude groß. Ich lernte ebenso von ihr wie sie von mir, denn ich horchte auf die Äußerungen amerikanischen