Oberst, sagte sie mit ihrer Himmelsstimme dem Sterbenden ins Ohr, indem sie seine Lippen feuchtete, halten Sie sich ruhig. Ihr König besucht eben das Lazarett, er will Sie sehen und Ihnen danken. Gleich wird er da sein.
Es war die fromme Lüge eines Engels, aber für Heinrich Sommers Hass verkehrte sie sich zur diabolischen Eingebung.
Er beugte sich über den Verwundeten: Herr Oberst!
Heinrich, flüsterte ich empört, denn ich fühlte was kommen würde, du bist hier, um Wunden zu verbinden, nicht sie aufzureißen.
Ich muss es wissen, flüsterte er zurück. Er erlebt den Abend doch nicht mehr. Schwerer Lungenschuss. – Herr Oberst, sagte er lauter.
Zu Befehl, Majestät, fuhr jener auf und machte eine Bewegung, wie um zu salutieren.
Sommer drückte ihn in die Kissen zurück.
Liegenbleiben! Ich will es. – Sie hatten einen Sohn – wie heißt er?
Das Gesicht des Sterbenden arbeitete, aber er brachte den Namen nicht heraus; es war als ob ein Krampf ihm den Mund verschlösse.
Was ist aus ihm geworden?
Fahnenflucht – vor dem Feind, Majestät, röchelte es mühsam aus der durchlöcherten Brust. – Degradiert und erschossen – habe selber Feuer kommandiert.
Es war schauervoll. Ich suchte den Peiniger wegzuschieben.
Du siehst, dass du auf falscher Spur bist. Der, den du meinst, ist außer Bereich des Kriegsrechts.
Der alte Mann liegt im Fiebertraum, war die Antwort, er träumt, wonach er gedürstet hat. Aber der Vater deines Götzen ist er doch.
Der Oberarzt trat eilig ein und rief mit den Worten: Kollege Sommer, wo stecken Sie denn? Wir brauchen Sie! den Unbarmherzigen hinaus.
Der Verwundete lag wieder mit geschlossenen Augen teilnahmlos. Nur seine Finger zuckten noch und schienen etwas zu suchen. Da schob Schwester Angela ihm das Eiserne Kreuz von 1813 hinein. Sehen konnte er es nicht mehr, aber er erkannte mit den Fingerspitzen was es war, und es verband sich seinen letzten Träumen.
Majestät – murmelte er beseligt, Dank – Dank – ich habe ja nur meine Pflicht getan –. Aber das Auge, das er noch einmal aufschlug, war schon blicklos und gläsern. Dann ging es rasch zu Ende.
Der Tod konnte dieses Gesicht nicht starrer und strenger machen als die Natur es gemacht hatte, aber er wischte alles Kleine, Kommisshafte daraus hinweg. Und in dieser heldischen Erhabenheit, die das Unversöhnliche seines Ausdrucks wunderbar adelte, trat die Ähnlichkeit mit Gustav nur noch mehr hervor.
O Gott und Herr, lass es nicht wahr sein! flehte ich in meiner Seele. Es wäre zu jammervoll.
Aber das Schwere musste sich enthüllen und erfüllen. Die Kunde von dem Obersten, der als Gemeiner gefochten hatte und in St. Hubert gefallen war, pflanzte sich von Mund zu Mund fort, von den verschiedensten Heeresteilen fanden sich an diesem Ruhetag die alten Feldwebel und Unteroffiziere ein, um seine Persönlichkeit festzustellen. Und endlich kam einer, der in dem Toten seinen Major vom schleswig-holsteinschen Feldzug erkannte, und er sprach den Namen aus, den ich zu hören fürchtete. Nun erschienen auch die jungen Offiziere vom Regiment, soweit sie noch lebten, und traten barhäuptig zu dem Alten, dem an Rang weit Überlegenen, der vor ihnen strammgestanden und jedem Befehl unverbrüchlichen Gehorsam geleistet hatte. Man hatte auf seinem Leib auch die alte Schussstelle gefunden, wo die dänische Kugel eingedrungen war, was den letzten Zweifel beseitigte. Die Erschwerung des Dienstes durch den alten Leibschaden entlockte den wenig rührsamen Ärzten manchen Ausruf erstaunten und hochachtungsvollen Bedauerns, mit was für Anmerkungen für den Sohn, brauche ich nicht zu sagen und lasse gern den Schleier über diese mir so schrecklichen Stunden sinken, in die nur ein teilnehmendes Wort Schwester Angelas, die alles mitzufühlen schien, was ich nicht aussprach, einen Schimmer des Trostes warf.
Gegen Abend begruben wir den alten Mann. Einen Sarg konnten wir ihm nicht geben, wir legten das Eiserne Kreuz vom Jahre Dreizehn auf seine Brust und ein paar Blumen in seine Hand, wickelten ihn in seinen Mantel und ließen ihn so hinab. Der Feldprediger, den die dringende Arbeit bei den Sterbenden verhinderte, eine Rede zu halten, von der jedes Wort ein Brandmal für den Sohn eines solchen Vaters gewesen wäre, sprach ein Gebet, die Soldaten sangen: Jesus, meine Zuversicht! und Ich hatt’ einen Kameraden, und die Feindesgeschütze von St. Privat, wo das große Sicheln weiterging, donnerten ihm die Ehrensalven. Ein rohes Holzkreuz wurde zurechtgezimmert, worauf der Name zu lesen war, den das preußische Heer von Alters her zu seinen Besten zählte. Mir aber war es zumut, als hätten sie nicht den Vater, sondern den Sohn begraben.
Mein Abschied von Sommer war kühl und kurz. Es war mir ein Charakterzug an ihm aufgegangen, den ich vorher nicht so recht erkannt hatte: die kalte Gehässigkeit des Neides. An unsern Studentenabenden bei Molfetta hatte er immer hinter Gustav zurückstehen müssen, dessen Überlegenheit er nur widerwillig anerkannte und mit dessen Schöpfergaben er nichts anzufangen wusste, da seinem verneinenden Wesen der Sinn für alles Künstlerische versagt war. Weil Gustav dies wohl wusste, hatte er ihn von der Teilnahme an seiner Dichtung ausgeschlossen und den Verletzlichen damit noch schwerer gereizt. Dann las er der stummgewordenen Adele ihr Liebesleid aus der Seele, und der Neid bohrte sich ihm tiefer und tiefer ein. Zuletzt sah er den Allbegünstigten noch Selma Hanusch davontragen, auf die Sommer, wie es scheint, schon früher ein Auge geworfen hatte, als die Künstlerin für studentische Huldigungen noch zugänglich war. Sommer hatte mich ja oft während unserer Studienzeit durch sein selbstgerechtes, absprechendes Gehabe gegen den gemeinsamen Freund ungeduldig gemacht. An jenem Abend begriff ich, aus welcher Quelle das alles floss.
Dem, der nicht verstehen will, ist auch nichts verständlich zu machen, und wer keine feinere Scheidung zulässt, der ist schnell mit dem Urteil fertig. Er verschloss all meinen Versuchen, ihm Gustavs Handlungsweise, wenn nicht zu rechtfertigen, so doch zu erklären, sein Ohr. Freilich musste ihm auch bei seinem völligen Mangel an Fantasie ein ganz von der Fantasie Beherrschter zur unlesbaren Schrift werden.
Erst hat er mit seiner unmenschlichen Selbstsucht die arme Adele getötet, sagte er, dann kam sein Vater an die Reihe, sein nächstes Opfer wird Selma sein, denk’ an mich.
Plötzlich lachte er hämisch auf und griff sich an die Stirn:
Fahnenflüchtig, um eine Hermannsschlacht zu dichten, das geht allerdings über den Horizont so eines Alltagsmenschen