den eben der Priester verlassen hatte. Sie reichte mir über das Haupt des Sterbenden die Hand und sagte mit einem Blick, der mein Innerstes zu lesen schien:
Sie haben heute einen schweren Tag gehabt, Gott schütze Sie und sei mit Ihnen.
Ich ritt mit dem Kollegen nach Flavigny zurück, woher wir gekommen. Der frühe Mond ging auf und beleuchtete ein endloses Totenfeld, Kreuz an Kreuz, die Arbeit dieses Ruhetages. Und wo wir vorüberkamen, sahen wir Leute beschäftigt, die rasch noch zwei rohe Bretter kreuzweise übereinander nagelten, Hammerschläge begleiteten uns auf dem ganzen Weg. Die weite lothringische Ebene – Gräber, Gräber für Freund und Feind. O Menschenbrüder! Traurigkeit überwältigte mich, wie ich noch keine gefühlt hatte, und hinter mir blieb der neuaufgegangene Stern meines Lebens verdämmernd zurück. Der schlechtsitzende Ring aber, der infolge der Kriegsstrapazen zu weit geworden war, muss unterwegs verlorengegangen sein, denn ich fand ihn später nicht mehr an meinem Finger.
Die nächste Feldpost brachte mir zwei Zeilen von Kuno, den ein Zufall bald nach mir in jenes preußische Lazarett verschlug. Er schrieb mir nur tröstend die Schlussworte aus Hölderlins Lied an das Vaterland:
Und zähle nicht die Toten, dir ist,
Liebes, nicht einer zu viel gefallen.
*
Da ich nicht meine, sondern Gustav Borcks Geschichte erzähle, überspringe ich die zwei nächsten Jahre, die ich dauernd in Amerika verbrachte. Das Deutsche Reich stand nun herrlich aufgerichtet und leuchtete wie eine Gralsburg über die Wasser herüber. Ich lebte in Philadelphia als Schriftleiter einer neugegründeten deutschen Zeitung, durch die das Deutschtum Pennsylvaniens unter Einem Zeichen zusammengefasst werden sollte, wie es die deutschen Stämme auf dem Mutterboden waren. Und mein kleines Lebensschifflein war in den seligsten Hafen eingelaufen.
Dir wird sich nie das Schicksal tragisch verknoten, weil du gar keine Begabung zum Unglück hast, hatte mir einmal Gustav gesagt. Denn wie einer beginnt, ob mit dem Rhythmus des Ganzen oder gegen ihn, so wird er enden.
Diese Worte des Freundes, die für ihn selbst keine glückliche Vorschau enthielten, sollten sich an mir zum Heile bewähren! Denn als ich nach dem Friedensschluss Europa verließ und mich mit zerspaltenem Gefühl meinem Porzellanprinzeßchen vorstellte, um das gegebene Wort einzulösen, da hatte die Vorsehung schon gnädig eingegriffen und ihr einen Industriellen zugeführt, der ihre Ansprüche in jeder Hinsicht besser befriedigte. Gerade um die Zeit, wo mir der Ring vom Finger verschwand, war das geschehen, und sie hatte nur meine Rückkehr abgewartet, um das Verhältnis friedlich und freundschaftlich zu lösen. Dann trat sie schönheitstrahlend und von der ganzen Stadt bewundert vor den Altar, ich aber führte wenige Monate später den Engel von La Gloriette in mein Haus. Wir waren miteinander in Fühlung geblieben, nicht durch Sommer, von dem ich mich innerlich lossagte, sondern durch Schütte, den Unbegreiflichen, der die Zwillingschaft unserer Seelen erriet, und ihre schönen, tapferen Briefe hatten mir bewiesen, dass ich diesmal nicht einem nur äußeren Reize erlegen war. Und so wie sie mir bei der ersten Begegnung erschien, ist sie an meiner Seite durchs Leben gegangen, als schirmender, in Liebe unbezwinglich starker Engel für alle, die der Liebe und des Schutzes bedürftig waren. Doch wem, der sie gekannt hat, brauchte ich das zu sagen!
Deutschland blieb meine ferne Liebe, mein Wunsch- und Wahlland. Meine ganze Kraft an die Verbreitung deutscher Bildung, deutschen Wesens zu setzen, war mir eine köstliche Aufgabe. Das einzige, was mich betrübte, war, dass es mir nicht gelang, die persönlichen Fäden festzuhalten. Alle Bemühungen, brieflich an Gustav Borck zu gelangen oder auch nur seinen Aufenthalt zu erfahren, blieben unbelohnt. Der einzige von den näheren Freunden, der mir schrieb, war Schütte, aber seine Briefe oder vielmehr Zettel waren sprunghaft und dunkel wie seine gebrochenen Worte und jedes Mal von einem anderen Orte abgesandt, sodass ich nicht antworten konnte. Um so froher war die Überraschung, als er eines Tages, eilfertig und geheimnisvoll wie immer, über meine Schwelle trat. Er war zu einer Theosophenversammlung, die in Neuyork stattfand, herübergekommen und wollte sich nur schnell, wie er sagte, bei uns den Kuppelpelz holen. Nicht meinem, aber Frau Angelas Zureden gelang es, den aus dem Rohr Geschossenen wenigstens für eine Nacht festzuhalten. Er war äußerlich seltsam verändert, sein immer schon spärlicher Haarwuchs war fast ganz verschwunden, eine fahlbraune Hautfarbe gab den weißen Zähnen etwas Bleckendes, das durch den großen Zwischenraum von der Nase zum Mund noch auffallender war, und die tiefliegenden Augen glühten wie angezündete Lichter in einem Totenkopf. Er stand nun vollends ganz im Banne der Mystik, sodass er alles auf sie bezog. Aber sein Freundesherz war das alte geblieben, und wir verbrachten zu dreien einen schönen Abend, der ganz der Erinnerung an die Universitätszeit gewidmet war und an dem Gustav Borck und Olaf Hansen, beide der Zuhörerin keine Fremden, mitten unter uns saßen.
Meine erste Frage hatte natürlich dem Dichter und seinem Werke gegolten. Kuno zog zuerst die Schultern hoch und schwieg.
Er lebt in Zürich, sagte er dann. Selma ist dort am Stadttheater angestellt und entzückt in ihren oberflächlichen Glanzrollen die Züricher wie zuvor die Stuttgarter. Sie hat sich aber ins künstlerische entwickelt, Dank dem Einfluss ihres Mannes.
Du sprichst von Selma, sagte ich verwundert. Aber Gustav?
Was willst du, er hat im Ausland keinen leichten Stand. In der Schweiz weht für uns Deutsche eine etwas kühle Luft, zumal für Norddeutsche. Und dabei ist man doch den mit der Heimat Zerfallenen nicht gewogen.
Und seine Dichtung?
Nun erfuhr ich etwas Merkwürdiges, das Kuno nur zufällig aus der Zeitung wusste. An einem Berliner Theater war bald nach dem Friedensschluss ein Hermannsdrama aufgeführt worden unter dem Titel »Der Befreier«, dessen Verfasser sich Max Berka nannte, das aber nach der Inhaltsangabe und den darin vorkommenden Namen nichts anderes sein konnte, als die stark zusammengezogene und verstümmelte »Varusschlacht« von Gustav Borck. An jenem Abend war es zu einem Theaterskandal gekommen, der sich vom Zuschauerraum in die Presse fortsetzte. Was in unseren Augen der höchste Adel des Stückes gewesen, die homerische Gerechtigkeit gegen Freund und Feind, das gereichte ihm in der Nachkriegsluft bei einer erfolgberauschten Mehrheit, die ohnehin für die poetischen Schönheiten blind war, zum Vorwurf, während eine politisch unzufriedene Minderheit die reine parteilose Kunst für ihre Zwecke umdeutete und dem Dichter Absichten unterschob, die er erst recht nicht hatte. Der angebliche