Karl Vorlander

Immanuel Kant: Der Mann und das Werk


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als durch einen Grundsatz mehr erhitzt werden, als es andere nach ihrem matten und unedlen Gefühl sich vorstellen können", Phantasten heißen. So werden der gerechte Aristides von Wucherern, der enthaltsame Epiktet von Hofleuten, der einfache Johann Jakob Rousseau von den Doktoren der Sorbonne als Phantasten verspottet und verlacht, die doch nichts anderes als moralische Enthusiasten sind. Ohne Enthusiasmus aber "ist niemals in der Welt etwas Großes ausgerichtet worden". Könnte diese Sätze nicht ebensogut der junge Schiller geschrieben haben?

      'Versuch über die Krankheiten des Kopfes'

      Eine kleinere Arbeit "gewann" Hamann in der Tat für die Kantersche Zeitung: den durch fünf Nummern (vom 13. bis 2j. Februar 1764) sich hinziehenden 'Versuch über die Krankheiten des Kopfes'. Dieser Aufsatz war mittelbar durch einen eigentümlichen Anlaß hervorgerufen worden. Seit Mitte Januar d. J. hielt sich in dem Amte Kalthof dicht bei Königsberg eine Art Naturmensch auf, der aus Galizien stammte und sich Jan Paulikowicz Komarnicki nannte. Bloß in Tierfelle gehüllt, führte er einen achtjährigen munteren Knaben, seinen jüngsten Sohn Patrick, in ähnlicher Kleidung, außerdem, aber eine Herde von Kühen, Schafen und besonders Ziegen mit sich, weshalb er vom Volke auch der "Ziegenprophet" benamst wurde, da er nebenbei noch religiöse Schwärmerei zur Schau trug. Wartung seines Viehes, Lesen der Bibel und Anfertigung hölzerner Löffel waren seine Hauptbeschäftigung. Zahlreiche Königsberger, darunter auch eine von dem rührigen Kanter zusammengebrachte "philosophische Karawane", sahen sich das Naturwunder an und vernahmen seine biblischen Orakel. Kant, der auch zu der Karawane gehört haben wird, schrieb auf mehrfache Aufforderung ein "Räsonnement" über die sonderbare Erscheinung für die genannte Zeitung. Er fand "für Augen, welche die rohe Natur gern ausspähen, die unter der Zucht der Menschen gemeiniglich sehr unkenntlich wird", weit interessanter, als den "begeisterten Faunus" selbst, dessen Sohn, den ohne jede Kultur in den Wäldern frei aufgewachsenen "kleinen Wilden", der ihm als ein vollkommenes Naturkind im Sinne Rousseaus für einen "Experimentalmoralisten" sehr beachtenswert erschien.

      Im Anschluß daran veröffentlichte er dann in den fünf folgenden Nummern die oben erwähnte geistvolle psychologische Plauderei über die 'Krankheiten des Kopfes', von der bloßen "Dummköpfigkeit" bis zur vollendeten Narrheit und vom Blödsinn bis zur Tollheit. Auch in diesen, in ihrem launigen Stil mit den 'Beobachtungen' verwandten Artikeln steckt Rousseauscher Geist. Der "Einfalt und Genügsamkeit der Natur" wird der künstliche Zwang und der bloße, sittsame oder weise "Schein" der "bürgerlichen Verfassung" entgegengesetzt. Nur die letztere brütet alle jene "Gebrechen des menschlichen Kopfes" aus und bringt es dahin, dass Leute, die "durch eine moralische Empfindung als durch einen Grundsatz mehr erhitzt werden, als es andere nach ihrem matten und unedlen Gefühl sich vorstellen können", Phantasten heißen. So werden der gerechte Aristides von Wucherern, der enthaltsame Epiktet von Hofleuten, der einfache Johann Jakob Rousseau von den Doktoren der Sorbonne als Phantasten verspottet und verlacht, die doch nichts anderes als moralische Enthusiasten sind. Ohne Enthusiasmus aber "ist niemals in der Welt etwas Großes ausgerichtet worden". Könnte diese Sätze nicht ebensogut der junge Schiller geschrieben haben?

      Vorlesungsprogramm 1765/66

      Von kaum zu überschätzendem Wert für die Kenntnis von Kants Lehrweise ist die 'Nachricht von der Einrichtung seiner Vorlesungen in dem Winterhalbenjahre von 1765/66', die wir unseren Lesern im Wortlaut zu lesen empfehlen möchten. Auch in ihr zeigt er sich im Einklang mit Rousseaus Rückkehr zur Natur und Humes Rückkehr zur Erfahrung, um beide zu vertiefen. Auch der öffentliche Unterricht muß und kann einfach und natürlich gestaltet werden. Erst muß man einen verständigen, dann einen vernünftigen Zuhörer heranzubilden suchen, denn nicht alle können Gelehrte werden; sonst bekommt man bloß frühkluge Schwätzer. Schicken doch "die Akademien mehr abgeschmackte Köpfe in die Welt als irgendein anderer Stand des gemeinen Wesens". Der aus der Schule entlassene Jüngling soll nicht fertige Gedanken, sondern denken, keine bestimmte Philosophie, sondern, so heißt es wiederum, philosophieren lernen. Anders als in den historischen und mathematischen Wissenschaften, die man auch erlernen kann, muß daher die Methode in der Weltweisheit "zetetisch, d. i. forschend", nicht "dogmatisch, d i. entschieden" sein. Wie er diese Methode in den vier beabsichtigten Privatvorlesungen: Metaphysik, Logik, Ethik und Physische Geographie, durchzuführen gedenkt, setzt der dann folgende zweite Teil des Programms auseinander. überall will er mit der Erfahrung beginnen und vom Leichteren zum Schwereren fortschreiten, was nebenbei auch noch den Vorteil habe, dass der Zuhörer nicht gleich zu Anfang durch zu große Schwierigkeiten abgeschreckt wird und selbst diejenigen etwas mit ins Leben nehmen, deren Eifer vorzeitig "ausdunste". Denn "jedermann weiß, wie eifrig der Anfang der Kollegien von der munteren und unbeständigen Jugend gemacht wird, und wie darauf die Hörsäle allmählich etwas geräumiger werden"! Die Logik will er in ihrer einfachsten Gestalt als das, was der gesunde Verstand uns vorschreibt, vortragen; denn in ihrem höheren Sinn, als Kritik der gesamten Weltweisheit, kann sie erst am Ende der akademischen Unterweisung stehen. In der Ethik will er Shaftesbury, Hutcheson und Hume zu verbessern und zu ergänzen suchen, und zuerst das, was wirklich geschieht, also die Natur, und zwar zunächst die rohe Einfalt des Menschen, studieren, ehe er entwickelt, was geschehen soll, indem er die höchste Stufe der physischen oder moralischen Vortrefflichkeit zu erreichen trachtet. Die Physische Geographie endlich will einen "angenehmen und leichten Inbegriff" von dem heutigen Zustande der Erde geben, von jetzt an auch unter Berücksichtigung der "moralischen und politischen" Geographie der Völker (Adickes bezweifelt freilich nach den erhaltenen Nachschriften dieses Kollegs die wirkliche Durchführung des neuen Programms).

      Träume eines Geistersehers

      Den Höhepunkt und literarisch zugleich den Schluß von Kants empiristischer und dabei der Skepsis zuneigender Periode stellte die Schrift des Jahres 1766: 'Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik' dar. Nur andeuten können wir die äußere Veranlassung dieser wiederum für ein allgemeineres Publikum bestimmten, zuerst anonym herausgegebenen Schrift. Der schwedische Spiritist Emanuel von Swedenborg (1688—1772) hatte durch seine theosophischen Schriften, mehr noch durch die Berichte über sein Fernsehen und seinen Verkehr mit den Geistern Verstorbener, viel von sich reden gemacht. Kant faßte, trotz seiner gesunden rationalistischen Grundstimmung, doch so viel Interesse für den Wundermann, dass er es sich die für seine Verhältnisse recht beträchtliche Summe von sieben Pfund Sterling kosten ließ, Swedenborgs Arcana coelestia (= Himmlische Geheimnisse), "acht Quartbände voll Unsinn", zu erwerben. Das "ungestüme Anhalten" "vorwitziger und müßiger Freunde" (und Freundinnen, wie Fräulein von Knobloch) veranlaßte ihn dann zu seinem im Herbst 1765 ziemlich eilig abgefaßten kleinen Buch. Für uns sind jedoch, wie für ihn selbst, nicht die in dem kürzeren zweiten Teil behandelten 'Träume des Geistersehers' die Hauptsache, sondern die 'Träume der Metaphysik'. Worin bestehen sie ?

      Das erste Kapitel wirft eigentlich bloß Fragen auf: Was ist ein Geist? Sind Geister körperlich? Wo im Körper hat die Seele ihren Sitz? Wie ist die Gemeinschaft von Geist und Körper zu denken? Wie die "innere" Tätigkeit der Materie? Diese und andere, noch von der Naturphilosophie unseres 20. Jahrhunderts umstrittene, Probleme bleiben für Kant Fragen, über die sich Gewisses nicht ausmachen läßt. Er wenigstens mache sich anheischig, jedem etwaigen Gegner sein Nichtwissen auf diesem Gebiete zu beweisen. Man kann nun diesen "verwickelten metaphysischen Knoten" nach Belieben "auflösen oder abhauen". Versucht man das erstere und gibt dabei immaterielle Geister zu, so führt uns die "geheime Philosophie" des zweiten Kapitels bald genug zur Annahme eines ganzen Geisterreiches. Die Gesetze immaterieller Kräfte kennen wir zwar nicht; aber empfinden wir nicht täglich die Abhängigkeit unseres eigenen von einem "allgemein-menschlichen" Urteilen und Wollen? Könnte es also nicht, entsprechend der physischen, auch eine geistigsittliche Anziehungskraft geben? Und einen ebensolchen Zusammenhang innerhalb der Geisterwelt, der sich auch nach unserem Tode fortpflanzte, so dass Geister mit uns reden und uns in menschlicher Gestalt erscheinen könnten? – Nein, erklärt die 'Antikabbala' (Kap. 3), das sind eben "Träume der Metaphysik", von metaphysischen Luftbaumeistern ("Träumern der Vernunft") oder von "Träumern der Empfindung" ersonnen. Die Sinnestäuschungen der Geisterseherei aber entspringen krankhaften Gehirnnerven, deren Besitzer man am besten einer Heilanstalt anvertrauen sollte. Trotz alledem, so lautet der "theoretische Schluß" (Kap.