Ludwig Ganghofer

Die schönsten Heimatromane von Ludwig Ganghofer


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Damit der Junge den Schlummer leichter finden möchte, plauderten sie mit gedämpften Stimmen. Das machte auch Pepperl sich zunutze und schloß die Augen wieder. Nur die beiden am Tisch empfanden keine Müdigkeit, kein Verlangen nach Schlaf. Das leise Sprechen beim eintönigen Rauschen des Regens gab jedem Wort, das sie sagten, einen heimlichen, tieferen Sinn und umwob die Plaudernden mit einer Stimmung, die sie genossen, ohne ihr nachzufragen. Manchmal, nach einem ernsten Wort, verstummte ihr Geplauder. Dann saßen sie sich eine Weile schweigend gegenüber, als hätten ihre nachklingenden Gedanken an diesem Worte noch zu raten. Nach solch einer Stille sagte Ettingen unvermittelt: »Die ganze Zeit schon, während ich plaudere mit Ihnen, bei jedem Wort, das Sie sprechen, hab ich immer eine seltsame Empfindung.«

      »Welche?«

      »Daß wir nicht allein wären hier am Tisch! Daß noch ein Dritter bei uns wäre. Ihr Vater!«

      Wie es aufleuchtete in ihren Augen! Das verriet ihm, mit welcher Sehnsucht sie darauf gewartet hatte, daß er von ihrem Vater sprechen würde.

      »Bei vielem, was ich von Ihnen hörte, hab ich mir immer denken müssen: Er ist es, der zu mir redet. Oft überkam mich die Täuschung, als vernähme ich eine andere Stimme, nicht die Ihrige, seine Stimme. Ich stelle mir vor, daß er ein tiefes, klangvolles Organ hatte – eine von jenen Stimmen, nach denen man sich umsieht, wenn man sie hört.«

      »Nein!« Sie lächelte. »Papa hatte eine ganz unauffällige Stimme, nicht stark und beinahe herb, fast immer ein wenig erregt und etwas ungeduldig. Aber wie weich und zärtlich konnte diese Stimme klingen!« Träumend blickte Lo vor sich hin. Ein Schatten tiefer Wehmut glitt über ihre Züge. Dann atmete sie auf und sagte leis: » Das kommt nicht wieder. Da hilft kein Erinnern.«

      Um die schmerzliche Stimmung zu verscheuchen, die sie befallen hatte, begann er von seinem Besuch in ihrem Haus zu sprechen und schilderte ihr den Eindruck, den er von jedem einzelnen Bild empfangen hatte. Lange hörte sie ihm schweigend zu, keinen Blick von seinen Lippen verwendend. Dann sprach sie manchmal ein paar flüsternde Worte dazwischen, um seine nicht völlig zutreffende Auffassung eines Bildes richtigzustellen, oder um zu sagen, aus welchem zufälligen, scheinbar unbedeutenden Erlebnis ein besonders wirksames Motiv hervorgewachsen wäre. So kam sie allmählich ins Erzählen, schilderte das Schicksal ihres Vaters, die Anfänge seiner Kunst, das zähe Streben des verwaisten Bauernsohnes, der zum Priester bestimmt war und aus dem Alumnenseminar hinübersprang auf die Akademie. Sie schilderte das stille Glück seiner Liebe, als er in der Erzieherin eines vornehmen Hauses, in dem er Zeichenstunden gab, seine Frau gefunden hatte, schilderte seinen häuslichen Sorgenkampf, seine Verzweiflung über das lachende Unverständnis, dem er mit seinem eigenartigen Schaffen begegnete, seine Verbitterung und die Flucht aus der Stadt. Noch ausführlicher erzählte sie, was sie selbst, als heranwachsendes Kind, mit dem Vater erlebt hatte: sein Aufatmen im Verkehr mit der Natur, die schönen Traumwochen am Sebensee, die Liebe zu den Seinen und die Freude an seinem Haus, den Anfang jener handwerksmäßigen Schilderei, die er im Zorn der Verbitterung begann, um sie weiterzutreiben mit heiterer Ironie, fast mit einer Art von Freude an ihr, weil sie anderen Freude machte. Sie erzählte von seiner Rückkehr zu neuem, reiferem Schaffen, von der Ängstlichkeit, mit der er die entstandenen Werke in seinem Haus verschloß, damit sie keinem »Kunstaugur« und »Bildungstiger« vor Augen kämen, von seinem ganzen Leben bis zu jenem letzten Tag nach dem Wolkenbruch, bis zu seinem lächelnden Sterben und seinem letzten Wort: »Meine Blumen!«

      Stunde um Stunde verging. Und die beiden merkten nicht, daß über dem kleinen Dach das Rauschen des Regens immer leiser wurde, und daß durch die Ritzen der Fensterläden schon ein mattes Grau des erwachenden Morgens hereinschimmerte.

      »So starb er.«

      Lange saßen sie schweigend, bis Ettingen ihre Hand nahm. »Ich kann es Ihnen nachfühlen. Wie müssen Sie ihn schwer verloren haben!«

      »Ja!«

      Sie sagte sonst kein anderes Wort. Erst nach einer Weile konnte sie wieder sprechen. »Das Lächeln, mit dem er starb, der leichte Seufzer, mit dem er die Augen schloß – das war mein Trost. Und das hat mir hinübergeholfen über das Schlimmste, so daß ich die Mutter und den Bruder stützten konnte. Er hat mich doch gelehrt, das Leben liebzuhaben, aber auch den Tod nicht zu fürchten, nichts anderes in ihm zu sehen als einen Wandel der Form und eine schöne Ruhe, in die kein Schrei und Weh des Lebens mehr hineinklingt. Und weil er starb, deshalb hat er uns nicht verlassen. Immer seh ich ihn, immer ist er bei mir. Als ob er noch lebte, so seh ich ihn vor mir stehen. Nur so still!« Ihre Stimme schwankte. »So schweigsam! Wie ich auch mein Erinnern sammle – seine Stimme hör ich nicht mehr, auch nicht im Traum! Und wenn ich sie zu hören meine, klingt sie anders. Nicht mehr so, wie sie war. Das ist eine Sehnsucht, die mich nie verläßt: seine Stimme noch einmal zu hören – nur jenes Wort, das er immer zu mir sagte, wenn ich ihm eine Freude machte – mit der gleichen Zärtlichkeit, mit dem gleichen Ton: ›Meine gute, liebe, kleine Lo!‹ Das möchte ich noch einmal hören, nur ein einziges Mal! Aber das kommt nicht wieder.« Zwei Tränen lösten sich schwer von ihren dunklen Wimpern und sickerten langsam über die Wangen.

      »Fräulein!«

      Das war ein Laut wie aus quälendem Schmerz heraus.

      Und da erwachte der Jäger. Der erst Blick seiner verschlafenen Augen galt dem Dach, über dem es stille war. Ein bißchen mühsam – alle Glieder schienen ihn zu schmerzen – erhob er sich und öffnete die Hüttentür. Weiße Helle und frische Morgenluft quollen in den Lampenschein der Stube. »Da schauen S' her, Herr Fürst! Der schönste Morgen!« Lachend rieb der Jäger sich die Augen und trat über die Schwelle hinaus.

      Die beiden am Tisch erhoben sich.

      »Wahrhaftig, der Tag ist da!« Ettingen faßte Lolos Hände. »Ich danke Ihnen, Fräulein, für diese Nacht! Und wenn ich jetzt gehe, nehme ich um Ihretwillen einen Wunsch mit fort.«

      »Einen Wunsch?«

      »Daß Sie das noch einmal hören möchten in Ihrem Leben, mit der gleichen Zärtlichkeit und mit dem gleichen Ton: Meine gute, liebe, kleine Lo!« Zögernd ließ er ihre Hände, ging zum Diwan hinüber und küßte den schlummernden Jungen auf die Stirn.

      Gustl erwachte, richtete sich in den Kissen auf, blinzelte mit den Augen und sagte: »Guten Morgen!«

      Das wirkte so drollig, daß sie lachen mußten, alle beide.

      Zärtlich streichelte Lo dem Buben die Wange. »Guten Morgen, Bubi! Aber leg dich nur wieder hin und schlaf noch ein Weilchen! Es ist noch gar nicht Tag, erst vier Uhr früh!«

      »So? Aber gelt, wenn die Sonne kommt, dann weckst du mich, Lo?«

      »Ja, Bubi!«

      Gustl drehte sich auf die Seite. Nach einer Minute schlief er schon wieder.

      Lo und Ettingen traten vor die Hütte.

      Im weißen Frühlicht lebten schon alle Farben der Landschaft auf, und diese Farben hatten etwas Neues, Ungewöhnliches und Kraftvolles. Doch nur in der Ferne erschienen sie klar. Über allen Farben der Nähe lag's wie ein grauer Seidenschleier. Und unter der Schwere zahlloser Wassertropfen waren die Kelche der Blumen gebeugt, ihre Blätter und Zweige zu Boden gedrückt. Während Tropfen um Tropfen von ihnen niederrollten, begannen sie schon langsam sich wieder aufzurichten, frischer und schöner, wie von neuem Leben erfüllt. Von den schweren Nadelzweigen des Harfenbaumes ging ein unaufhörliches Geriesel nieder, und das war in der Stille des Morgens wie eine leise, heitere Murmelstimme, in die sich mit tiefem Orgelton das ferne Rauschen der wasserreichen Wildbäche mischte.

      Ruhig dampfte der See. Die Dünste, die von ihm aufstiegen, zerflossen wieder in den Lüften. Vereinzelte Nebelsäulen rauchten über die schwarzgrünen Kämme der Wälder empor und zogen sich an den Gehängen der Berge hin, die bei dieser lauteren Klarheit der Luft wie zum Greifen nah und von doppelter Größe erschienen. An den Wänden, die gegen Westen blickten, waren mit nassem Blau alle Formen verwaschen. In hartem Bleigrau und scharf gezeichnet starrten die Felsen, die gegen Osten sahen, von wo die Sonne kommen sollte. Sie kam noch nicht. In kalter Helle leuchtete das dünne Blau des Himmels, und mit erlöschendem Schimmer zitterte ein großer Stern