das Bild, auf dem sie in voller Trance bei einem Ritual zu sehen war, und verglich das Gesicht mit dem Original. Sie war fast nicht wiederzuerkennen, und trotzdem: Etwas von all den Verzückungen, Verrenkungen und inneren Reisen war als Spur auf ihrem Gesicht zurückgeblieben. Auch jetzt, hier, an diesem normalen Sonntagmorgen, erschien sie mir ein wenig drogué.
Dann erschien der Übersetzer, ein junger, großgewachsener Mann im weißen Gewand – der „Intellektuelle“ des Dorfes, denn er hatte studiert und erledigte nun alles „Schriftliche“ für die Bewohner. Er war der jüngste Sohn eines reichen und einflussreichen Vaters, eines „Noblen“ mit 72 Kindern. Später sollte er uns sein wundervolles, wenn auch heruntergekommenes Elternhaus in Tengouélan zeigen, bewohnt von einem blinden Alten, der verloren in einer dunklen Flurecke saß. Obwohl etwa dreimal so alt wie der „Intellektuelle“ war er dessen Vetter, wurde jedoch mit père heritier angeredet. Der Altersunterschied erklärte sich aus dem hohen Alter, in dem der Vater seinen Jüngsten noch gezeugt hatte; und da die Agni in der mütterlichen Linie erben, ging das Haus des Vaters auf den ältesten Sohn seiner Schwester über, und die leiblichen Kinder gingen leer aus. Sie erbten von ihrem Onkel mütterlicherseits, wo aber nicht viel zu holen war. So war dem „Intellektuellen“ nur der Stolz geblieben, nobel und gebildet zu sein, obwohl beides wenig abwarf.
„Wir haben eben das Matriarchat“, fasste er etwas resigniert zusammen.
Später führte er uns zum Grab seines Vaters, des ehemaligen Dorfältesten. Das Grab war, wie hier üblich bei wichtigen Persönlichkeiten, geschmückt mit lebensgroßen, bunt bemalten Figuren, in seinem Fall mit einem Ungehorsamen, der geköpft in einer sehr roten Blutlache lag, sein Kopf in der Hand eines Mannes hinter ihm, der mit einem Säbel bewaffnet und flankiert von zwei Polizisten, einem Löwen und einem Elefanten war.
„Es wirkt sehr lebendig“, bemerkte ich beeindruckt.
„Nun“, antwortete er, „wie einer unserer Weisen gesagt hat: ‚Die Toten sind nicht tot‘.“
Aber zurück zur Fetischpiesterin. Inzwischen hatten wir uns in einen Nebenhof bewegt und saßen dort mit dem „Intellektuellen“ vor ihrem Haus. Die Priesterin war offensichtlich mit Vorbereitungen beschäftigt. Wir sahen sie hin- und herschlurfen.
„Siehst du die Metallkettchen an ihren beiden Fesseln? Darin erkennst du die Meisterin. Die Schülerinnen, die dort am Brunnen hantieren, tragen Kettchen aus Kaurimuscheln.“
Jetzt setzte sie sich, immer noch mit ihrem dämmrigen Ausdruck, zu uns, und ich übergab ihr die Ginflasche und 10 000 CFA (etwa 25 Schweizerfranken). Wir nahmen alle einen Schluck, gossen ein wenig auf den Boden, „für die Ahnen“, dann entfernte sie sich mit der Flasche.
Wenig später sahen wir einige der Frauen mit dem Gin zum – unscheinbaren, schmucklosen – Grab der „Großmutter“ hinübergehen. Sie füllten einige dort deponierte Gläschen damit.
«Sie locken jetzt die Geister an», sagte Mathurin.
Ich assoziierte: les génies, Genius, Genie, Gin, dschinn (die arabischen Geister), genièvre (Wacholder), Agni ... Ich wurde aus meinen Buchstabenträumen gerissen, als sich der Übersetzer zu uns setzte, und es entspann sich ein Gespräch über die passende Bezeichnung für Ahissia. Féticheuse ließ er nicht gelten, denn Ahissia benütze keine Objekte für ihre Wahrsagungen. Auch „Heilerin“ sei nicht zureichend. Er verwies uns auf eine andere, uralt wirkende Frau im Hof, eine Medizinfrau und „Kräuterhexe“, die später uns gegenüber von sich behauptete, sie könne jede Krankheit heilen außer Aids. Aber sie arbeitete mit nichts „Metaphysischem“, sie war einfach eine Pflanzenkennerin. Charlatan ging erstaulicherweise durch, hatte nichts Entwertendes für ihn. Ahissia selber aber nannte sich – selbstbewusst und bescheiden zugleich – prêtresse des génies.
Der geheimnisvolle Untergrund von Worten, ihre geheimen, magischen Verbindungen. Mir ging eine Passage von Hampaté Bâ durch den Kopf:
Ein einziges schlecht gebrauchtes Wort vermag einen Krieg auszulösen wie ein brennendes Zweiglein einen Flächenbrand. Ein Sinnspruch in Mali sagt: „Was bringt eine Sache in den Zustand (das heißt ordnet sie an oder arrangiert sie in vorteilhafter Weise)? Es ist das Wort. Was beschädigt eine Sache? Es ist das Wort. Was erhält eine Sache in einem guten Zustand? Es ist das Wort.“22
Plötzlich hörten wir die wimmernde Stimme Ahissias aus dem Fenster.
„Sie ist jetzt in Trance“, sagte jemand. „Die Geister sind in sie gefahren“.
Nun wurden wir also zur „Priesterin der Geister“ hereingerufen.
Wir legten im Vorraum unsere Schuhe ab. Dann setzten wir uns links in eine Art Durchgang oder Passage. Wir, das waren der Übersetzer, Nadja (meine damalige Freundin) und ich. Die Priesterin selber saß in einem dunklen Raum, von dem wir nichts sahen. Dazwischen, auf der Schwelle, saß ebenfalls eine Priestern, die „Interpretin“. Ihre Aufgabe war es, die Sprache der Geister, die sich durch Ahissia kundtaten, in die Agni-Sprache zu übersetzen. Insofern war sie nicht einfach Übersetzerin, wie der „Intellektuelle“, der das Agni dann ins Französische übersetzte, sondern eine Eingeweihte, die – eine Art Hermes – die nichtmenschliche Geheimsprache in die diesseitige Welt „transferieren“ musste.
Die unsichtbare, unkörperliche Ahissia sprach in Trance aus dem Dunkel. Die Geister existierten – für uns – nur in der Sprache, der Stimme, diesem rhythmischen Singsang. Offenbar klappte die „Übertragung“ nicht einwandfrei. Die Interpretin musste zuerst einige Male zurückfragen, bevor die Séance beginnen konnte.
„Die Geister sprechen jetzt durch sie“, erklärte der „Intellektuelle“ in der Zwischenzeit. „Sie wird sich nachher an nichts mehr erinnern können.“
„Was möchtet ihr?“, fragte sie. (Man nehme die Frage in ihrem ganzen, den Wunsch betreffenden Gewicht).
„Ich möchte etwas über die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft erfahren.“
Und nun sagte die Priesterin zu mir: „Deine Eltern sprechen verschiedene Sprachen. Sie verstehen sich nicht.“
Als ich eine Weile schwieg, fügte sie hinzu:
„Die Geister wollen diskutieren.“
Ich hatte die Aussage falsch verstanden, im Sinne von: Die Eltern sprechen eine andere Sprache als ich, wir verstehen uns nicht. Ich widersprach ihr und sagte, das sei vielleicht früher so gewesen, jetzt aber nicht mehr. Interessanterweise passte sie ihr Orakel nun aber nicht etwa meiner „Berichtigung“ an, sondern wiederholte und insistierte:
„Deine Eltern verstehen sich nicht, und sie haben auch verschiedene Ziele für dich, in Hinblick auf dich, sie wollen verschiedene Dinge von dir. Du selber hast noch nicht wirklich gefunden und verwirklicht, was du persönlich willst. Diese Wünsche deiner Eltern dir gegenüber halten dich von deinem eigenen Weg ab oder erschweren ihn zumindest.“
Man könnte sagen, dieser Orakelspruch sei ein Allgemeinplatz; trotzdem traf er zugleich ins Zentrum meiner Biografie, insofern als mich diese „verschiedene Sprache der Eltern“ tatsächlich von Geburt an geprägt hatte, ja schon vorher, denn die Trennung meiner Eltern war meiner Geburt bereits vorangegangen. Als ich auf die Welt kam, waren sie schon nicht mehr zusammen. Und nichts trifft die „Unverträglichkeit“, die „Differenz“ meiner Eltern besser als diese Worte von der „verschiedenen Sprache“. Es handelte sich tatsächlich nicht einmal um einen Streit, der zumindest eine gemeinsame Ebene vorausgesetzt hätte, sondern um eine Inkompatibilität, einen Widerstreit. Suaheli und Chinesisch ...; wenigstens habe ich es immer so wahrgenommen.
Auf jeden Fall löste die Wahrsagung einen ganzen Schwall von Assoziationen aus, und vielleicht war mein anfängliches Nichtverstehen auch ein Allzugutverstehen.
Als Nächstes sagte sie, ich könne nicht mit Geld umgehen. Tja, was sollte ich da für eine Antwort geben? (Denn sie erwartete eine.)
„Nun“, sagte ich, „sicher, so eine Reise wie diese hier nach Afrika kostet und bringt ökonomisch nicht viel;