ich all die Vorkommnisse des Tages, machte ein Schläfchen, dann gingen wir mit Mathurin zum Abendessen. Er hatte seinen Freund, den Bankdirektor, mitgenommen. Wir sprachen über die Seherin in Tengouélan, und er erzählte, dass er als Schüler jeweils die Prüfungsaufgaben des folgenden Tages vorausgesehen habe. Er vertrat auch die Theorie, dass Frauen besser als Männer für die Hellseherei prädestiniert seien wegen ihrer Eifersucht, die sie die kleinsten Zeichen lesen lasse.
Plötzlich kam mir wieder etwas in den Sinn, das Ahissia gesagt, ich aber wieder vergessen hatte: Trotz der unterschiedlichen Ziele der Eltern bezüglich meiner Zukunft würde ich am Ende finden, was ich wirklich wolle, aber das sei mit viel Arbeit und Kraft (force) verbunden. Diese Bemerkung war für mich deshalb so interessant, weil mir eine Hellseherin in Dublin etwa ein Jahr vorher mittels Karten dasselbe vorausgesagt hatte.
(Ich entnehme diese Tatsache einem Eintrag in meinem irischen Tagebuch. Gleich darunter finde ich folgende Notiz:
„Im Bus. Ich denke über genies nach. Ich hebe den Kopf. In diesem Moment blättert vor mir jemand die Zeitungsseite um und die Schlagzeile erscheint: The Puzzle of Genius.“)
Ich denke jetzt, beim Schreiben, über Vergessen, Erinnern und geheime, unterirdische Verbindungen nach und dann erscheint eine weitere Erinnerung:
Als wir in Tengouélan am Grab der „Großmutter“ vorbeigingen, erzählte jemand von einer Gruppe amerikanischer Schwarzer, die (auf der Suche nach ihren roots) vor einiger Zeit hier waren. Als sie ebendieses Grab passierten, fiel einer von ihnen, der nie vorher in Afrika gewesen war, in Trance und begann Agni zu sprechen. Wieder zu Hause forschte er in seinem Stammbaum nach und entdeckte, dass Vorfahren von ihm aus dieser Gegend stammten.
Auch hier wieder: Hatte er unbewusst schon „gewusst“, dass er Vorfahren unter den Agni hatte und war deshalb hergefahren? Hatte er das nachträglich hineingelesen, interpretiert, konstruiert? War überhaupt die ganze Geschichte, wie so viele, nachträglich „gemacht“? Auf jedenfall schien es mir, je länger ich mich hier aufhielt und mit diesen Themen beschäftigte, so etwas wie einen Subtext zu geben, ein Netz von Zeichen, die alle aufeinander verwiesen, so wie die Spuren des Unbewussten in Freuds „Traumdeutung“. Nur, dass es hier um reale Ereignisse und nicht um Träume ging; allerdings um „reale“ Ereignisse, die häufig eine seltsam textuelle Struktur besaßen. Die Textur der Wirklichkeit. Es ging offenbar um Zeichen, die nicht nur etwas Reales repräsentierten, sondern dieses Reale hervorbrachten, beziehungsweise zumindest einen vorbereitenden Kontext schufen, in dem das Ereignis eintreten konnte, in dem es möglich wurde. „Primat der Struktur und des Signifikanten“ hatten das die Strukturalisten genannt: damit ein Ereignis eintreten kann, müssen zuerst die Bedingungen der Möglichkeit geschaffen werden, in der Wahrnehmung, in der Psyche; denn nur was wahrgenommen wird, was von der Wahrnehmung zugelassen wird, geschieht.
Der Féticheur
Wir hörten von Coulibaly. Coulibaly ist ein Bambara aus Bamako, Mali. Er war von einem ivorianischen Politiker für die Zeit des Wahlkampfs als Berater engagiert worden. Für drei Monate hatte man ihm, seinen zwei Frauen und dem kleinen Sohn ein Haus in Abengourou zur Verfügung gestellt. Mit Mathurin suchten wir ihn eines Morgens auf.
Die eine seiner zwei Frauen war gerade daran, Schaffleisch vor dem Haus zu braten. Wir traten ein in den kahlen Wohnraum mit einem Fernseher und einer Wolldecke auf dem Boden; darauf saß die andere Frau und der kleine Dauda. Wir setzten uns auf eine Holzbank. Coulibaly, noch jung, sehr freundlich, kam herein und bot uns vom Schaffleisch an.
Wir wuschen uns mit dem Wasser aus einem gereichten Plastikbecken die Hände, zogen die Schuhe aus und folgten Coulibaly in ein dunkles, fensterloses Hinterzimmer. Erst konnte ich fast nichts erkennen; nur durch die halb geöffnete Türe kam etwas Licht, allerdings auch der Lärm eines Radios, sodass ich Coulibaly fast nicht verstand, der zwar Französisch sprach, aber ein sehr afrikanisches. Mathurin musste oft übersetzen.
Als sich meine Augen an das Halbdunkel gewöhnt hatten, erkannte ich nach und nach eine Matte im Hintergrund, davor eine gespannte Schnur, an der seine Kleider hingen. Der Boden war über und über bedeckt mit Flaschen und Gläsern, gefüllt mit braunen Flüssigkeiten, Kräutern, Samen, Rindenstückchen, Töpfen, Beuteln, Dosen mit (für mich) undefinierbarem Inhalt. Dann erkannte ich ein Huhn zwischen all den Gefäßen und an der Wand angeheftete Blätter, voll gekritzelt mit geheimnisvollen Zeichen. Erst nach längerer Zeit sah ich in der Ecke den „Fetisch“, eine kniehohe Holzfigur, behangen mit Kaurimuscheln und bedeckt mit grauen Federn.
Coulibaly selbst trug inzwischen seine Arbeitskluft, sein chemise de chasseur, bestickt mit mehreren in Leder gefassten Gris-Gris oder Talismanen, und seine Zaubermütze mit der Kaurimuschel. Wir saßen zu dritt auf einer Holzbank, während Coulibaly am Boden kauerte.
Nun musste ich ihm 205 CFA in Münzen geben (ca. 50 Rappen). Er reichte mir eine Hand voll Kaurimuscheln, in die ich „hineinsprechen“ musste, das heißt, denen ich sagen sollte, was ich wollte. Die Sprache, in der ich das sagte, spielte keine Rolle; jedoch sollte ich leise sprechen, sodass mich die andern nicht verstünden.
Was sagte ich den Muscheln? Wiederum muss ich dafür einen persönlichen Exkurs machen: Nadja, meine Begleiterin, ist Diabetikerin. Es nahm uns besonders wunder, ob es Coulibaly möglich sein sollte, die Zuckerkrankheit zu erkennen, ja, ob er vielleicht sogar ein Mittel dagegen verschreiben würde. Diese Problematik teilte ich den Kaurimuscheln mit.
Dann nahm Coulibaly die Muscheln wieder und warf sie mit den Münzen ein paarmal auf den Boden und interpretierte die entstandene Anordnung.
„Du hast viele Träume, die dir Angst machen; du wachst in der Nacht auf und deine Gedanken sind verwirrt. Das sind Geister, die kommen. Du musst ein Opfer darbringen: Einen weißen Hahn, sieben weiße Kolanüsse, Kuhmilch. Ich werde dir in einem Canari (Tontopf) eine magische Portion zubereiten.“
Coulibaly sprach ruhig und nüchtern, sehr konzentriert auf die Verteilung von Muscheln und Münzen nach seinen Würfen, ohne Trance, und Nadja notierte seine Aussagen. (Wir arbeiteten nie mit Tonband; ich hatte mich schließlich als Klient eingeführt und nicht als Ethnograph. Was die Notizen betrifft, so schlug Coulibaly selber vor, wir sollten seine Anweisungen notieren, er könne sich nachher nicht mehr gut an alles erinnern. Ich werde später auf meine Rolle zurückkommen. Nur so viel: Im Magie- und Hexereidiskurs existiert die Position des neutralen Beobachters eigentlich nicht; es gibt nur solche, die „drin“, also involviert sind (als Hexer, Verhexte oder Enthexer) und solche, die „draußen“ sind, die aber auch nichts „Relevantes“ aussagen können. Es bringt nichts, die Leute in einer allgemeinen Art über diese Dinge auszufragen; man muss sich, als zumindest teilweise Betroffener, verstricken lassen, sich – auch emotional – in das System einklinken. Es ist klar, dass diese Feststellung einen Metadiskurs, der eine Synthese der Innen- und der Außensicht wäre, ausschließt oder zumindest schwierig macht. Denn die Welt, um die es geht, ist quasi nur von innen real. Nur der, der subjektiv, als Subjekt (und Objekt) ein Teil dieser ontologischen Halbwelt wird, kann „authentische“ Aussagen darüber machen; die jedoch von einem Außenstehenden notwendigerweise als irreal und unobjektiv [dis-]qualifiziert werden müssen.)
Wieder warf Coulibaly sein Orakel.
„Deine Mutter denkt und denkt. Sie ist sehr unruhig. Sie denkt zu viel“, sagte er, immer noch zu mir gewandt.
„Wann fahrt Ihr zurück? Ihr müsst eine Medizin für sie mitnehmen.“
Als er das Datum hörte, meinte er:
„Das ist zu spät. Es handelt sich um einen dringenden Fall. Ich muss sofort etwas für sie tun. Wir müssen ein weißes Wickeltuch für sie vergraben; dann wird sie ruhiger werden.“
Ich werde später auf meine Mutter, und wie es ihr zu diesem Zeitpunkt erging, zurückkommen.
Coulibaly fuhr fort, zu mir gewandt:
„Eine Frau in deiner Familie ist zuckerkrank.“
Ich