unter anderem auch angespornt von Nadja, die ihre Medizin täglich einnahm und mit sehr ausgeglichenen Blutzuckerwerten belohnt wurde. Der Sud schmeckte anfangs wie ein Waldboden nach einem sommerlichen Regenguss, gegen Ende der Woche, als er möglicherweise etwas zu gären begann, eher wie eine Kloake. Aber ich hielt tapfer durch und fühlte mich prima. Insbesondere musste ich aber etwas sehr Seltsames feststellen. Seit meiner Kindheit gab es einen aufwühlenden Albtraum, der mich ein-, zweimal pro Monat heimsuchte und der mit meiner Großmutter zusammenhing, eben jener Diabetikerin, von der in Coulibalys Konsultation auch die Rede war. Dieser schlechte Traum (auf den man Coulibalys erste Aussage in seiner Séance beziehen könnte) löste sich auf (was kein Psychologe zuvor in noch so vielen Sitzungen und noch so genauer Analyse der „latentesten Trauminhalte“ erreicht hatte!) Bis heute, Jahre danach, ist er nicht wiedergekommen. Wie ein Geist, der mich jetzt in Ruhe lässt.
Ich hatte Mathurin Abzüge der Fotos geschickt mit der Bitte, einen Satz Coulibaly weiterzugeben. Wenige Tage darauf kam ein Brief von Mathurin. Er ließ mir ausrichten, Coulibaly habe mithilfe meines Fotos eine Befragung gemacht und sei zu dem Schluss gekommen, ich müsse einen weißen Widder opfern samt 75 Gramm Münzen und 185 weiße Kauris. Dies alles vor Ende Dezember, denn es gehe um ein glückliches Neues Jahr. Im Falle, dass mir dies nicht möglich sei, könne ich auch die Summe von 100 000 CFA (160 EUR) auf sein, Mathurins, Konto überweisen. Der Brief endete mit dem Postscriptum: „Je te prie beaucoup fait ce sacrifice avant le 31/12/95 pour ta propre santé. Car rien ne vaut la vie de l’homme.“ („Ich bitte dich inständig, mache dieses Opfer vor dem 31. 12. 95, für deine eigene Gesundheit. Nichts kann das Leben eines Menschen aufwiegen.“)
Nun, ich wurde ziemlich wütend, vor allem über diesen drohenden Nachsatz. Kam hinzu, dass Mathurin schließlich in Helsinki afrikanische Kunst studiert hatte und sehr wohl wusste, dass ich hier keinen Widder opfern konnte. Ich muss auch noch hinzufügen, dass er am Abend vor unserer Abreise von Abengourou zu mir gekommen war mit der Bitte, ihm 6000 CFA zu geben, weil er völlig blank sei. Ich hatte sie ihm gegeben, aber es war ein schales Gefühl zurückgeblieben.
Ich schrieb ihm also zurück, da sich Coulibalys Prophezeiung noch nicht erfüllt und Nadjas versprochener Reichtum sich noch nicht eingestellt habe, wir stattdessen immer noch an all den Ausgaben für die afrikanischen Heiler nagten, müsse er sich noch etwas gedulden mit der Überweisung.
Zugleich war aber seine Drohung doch nicht ohne Wirkung geblieben. Das System von Hexerei und Gegenhexerei hatte mich zweifellos ein bisschen gepackt. Ich war ein wenig abhängig geworden vom Schutz meiner Gris-Gris und Opfer und reagierte nun ängstlich und mit einem schlechten Gewissen auf meine Weigerung, das Opfer darzubringen. Dann geschah etwas Eigenartiges. Ich arbeitete eines Nachmittags im Keller, als ich plötzlich feststellte, dass Coulibalys Silberring von meinem Finger verschwunden war. Das war umso irritierender, als ich sicher wusste, dass er eine Stunde vorher noch da gewesen war, weil ich ihn zum Händewaschen abgestreift und nachher wieder angezogen hatte. Und nun war er plötzlich verschwunden und auch nach langer Suche nicht mehr aufzufinden. Und das, nachdem ich nach langem Zögern an ebendiesem Morgen den Brief an Mathurin mit besagter Antwort zur Post gebracht hatte! Ich wurde die Idee einfach nicht los, Coulibaly sei rasch hier gewesen und habe den Ring erbost wieder an sich genommen.
Ich habe den Ring bis heute nicht mehr gefunden, aber ich wurde entlastet, als einige Tage später ein Brief von Coulibaly eintraf, in dem er aufgrund seiner Konsultationen folgende Opfer anordnete:
1 Liter frische Kuhmilch, 1 Gramm Gold, 1 weißes Huhn, 100 Kauris, 5 Meter weißer Perkalstoff, 100 Datteln, an einem Freitag an kleine Kinder zu verteilen, 1 lebendes Chamäleon.
Falls es uns nicht möglich sei, diese Opfer darzubringen, sollten wir ihm 50 000 CFA (80 EUR) schicken, und er würde das Opfer für uns durchführen.
Ich ging davon aus, dass der Bericht von Mathurin nicht von Coulibaly stammte und er es nur auf unser Geld abgesehen hatte. Im Nachhinein bin ich erstaunt über meine Angst und Aufregung nach dem Verlust dieses Ringes. Wie groß muss die Abhängigkeit vieler Afrikaner von den Schutzzauberern sein, wenn es schon bei mir Außenstehendem so wenig brauchte. In gewisser Weise wird nicht der „magische Text“ dem Klienten angepasst, sondern die Klienten werden nach und nach dem magischen System oder Text angepasst oder ihm eingefügt. Das System ist zirkulär: Irgendwann sind die Wahrsagungen wahr, weil sie – zumindest bei einer „Langzeitbehandlung“ – den Klienten den Erwartungen des Systems angepasst haben und er sich in diese Sprache und ihre vorgesehenen Strukturen und Positionen eingefügt hat. Der Patient verhält sich gemäß einer vom Hellseher vorformulierten Rolle.
Ich machte all die vorgeschriebenen Opfer, schrieb Coulibaly jedoch, ein Chamäleon zu opfern sei mir nicht möglich. Dem Brief legte ich 2000 CFA (3 EUR) bei.
Zwei Wochen später kam die Antwort. (Von Mathurin hörte ich nichts mehr.)
Coulibaly schrieb, dass er das Chamäleonopfer inzwischen selber vorgenommen habe. Nach seinen neusten Konsultationen war es nun nötig, einen Ziegenbock für mich zu opfern; ebenfalls brauchte er ein wenig Goldstaub, weißes Silber und noch ein Foto von mir. Er bat mich dafür abermals um 50 000 CFA. Weiter fragte er nach dem Namen von Nadjas Schwester und ihrem Mann, weil er Konsultationen über sie durchführen wolle. Das war nun allerdings interessant, weil die beiden tatsächlich gerade in der Trennung begriffen waren.
Trotzdem brach ich an diesem Punkt den Kontakt vorläufig ab ...
Verwirrung als Erkenntnismittel
„An einem gewissen Punkt angelangt, gibt es kein Zurück mehr.
Das ist der Punkt, der erreicht werden muss.“
Franz Kafka
Im vorhergehenden Kapitel habe ich ein wenig von meinen gedanklichen Assoziationen und emotionalen Reaktionen berichtet, als ich zum ersten Mal afrikanische Heiler in der Rolle des Klienten aufsuchte. Ich behauptete, dass die Introspektion in solchen ungewöhnlichen Situationen uns Aufschluss geben könne über latente Aspekte des Gegenübers, sofern es gelinge, sie (nachträglich) in einen Kontext zu stellen, der über das Persönliche hinausgeht. Ich möchte im Folgenden anhand von einigen weiteren Situationen zeigen, wie ich als Forscher zum Objekt von Übertragungen wurde, die mich dazu brachten, Dinge zu fühlen, zu denken und zu tun, die ich sonst unterlassen hätte. Anhand dieser inneren und äußeren Übertretungen, durch das Erlebnis einer eigenen Andersheit, kann man etwas erfahren über die Andersheit der Andern.
Die drei afrikanischen Begebenheiten sind alle étrange (fremd, befremdend, seltsam), und sie haben alle etwas zu tun mit Übertragungen, von mir auf andere, von anderen auf mich, die etwas anrichten im Inneren und so die Sicht und dann auch das Verhalten verändern. Und insofern führen diese Übertragungen zu Übertretungen (der eigenen Grenzen und derjenigen der andern) und manchmal dann auch zur Einsicht in die Grenzen der Übertragbarkeit.
Auch (oder gerade) als Wissenschaftler und Forscher muss man manchmal den Kopf verlieren, um weiterzukommen. Denn was für viele ethnologischen Themen gilt, gilt ganz besonders in bezug auf Heiler, Hexerei und Magie in Afrika: „Though this be madness, yet there is method in’t“ – ist’s auch Wahnsinn, so hat’s doch System.27 Man muss es bloß finden.
Man findet es jedoch nicht diesseits, sondern jenseits der madness. Oder: Der Sinn ist im „Wahnsinn“ (buchstäblich ein Teil davon), nicht außerhalb. Man muss hineingehen.28
Übertretungen des Bischofs – Stärke
Die erste Begebenheit fand Mitte der Achtzigerjahre in Ifakara statt, einer Kleinstadt in Tansania. Ich saß mit einigen so genannten Entwicklungshelfern und einigen Einheimischen in einem Garten. Jemand zeigte zu einem großzügigen Haus jenseits der gegenüberliegenden Wiese und erklärte, das sei das Haus des Bischofs. Ich bemerkte lachend, für eine einzige Person sei das Haus aber etwas groß.
„Er ist nicht allein“, sagten die Afrikaner.
„Wie das?“
Und sie erzählten mir von der sechzehnjährigen