Wortlos, taktvoll und von tiefstem Mitgefühl erfüllt, hilft sie ihr beim Entkleiden, packt sie ins Bett, mischt ihr ein Schlafpulver und hält neben ihrem Bett Wache.
Sie muß ihren Schreck, wovon sie sich nichts hat anmerken lassen, erst überwinden.
Liebevoll umschließt ihr Blick das wachsbleiche Antlitz mit dem wehmütigen Zug um den blassen Mund.
Armes, liebes Hascherl – denkt sie voll Erbarmen – es hätte ihr Tod sein können, zumindest hätte sie Schaden davontragen können. Es wäre nicht der erste Fall gewesen.
Sinnend, in sich zusammengesunken, verharrt sie in ihrer unbequemen Stellung. Sie beobachtet ihre Herrin mit wachen Augen. Sie studiert jeden Zug dieses schönen Antlitzes, sucht nach einer Veränderung, einem Zucken der Lider oder des Mundes. Aber nichts regt sich in den Kissen.
Da atmet sie auf. Gott sei Dank. Sie schläft. Schlaf macht, wenn auch nur vorübergehend, allen Kummer klein und läßt die Trauernden ins Reich der Träume versinken.
*
Frühzeitig wird Annemarie von Doktor Hartmann aus dem Schlaf gerissen. Er schwenkt die Morgenzeitung in der Hand. Sie will ihn ausschimpfen, doch ein Blick in sein tiefernstes Gesicht, nachdem er ihr den Morgenkuß auf die Lippen gedrückt hat, läßt sie sofort verstummen.
»Was ist los, Konrad? Ist eines deiner Häuser eingestürzt? Ist etwas mit Susanne?« Sie bestürmt ihn mit Fragen.
»Gib mir erst eine Tasse Kaffee, aber bitte, recht stark.«
»Natürlich, Konrad, sofort bekommst du deinen Kaffee.«
Sie wäscht sich oberflächlich im Bad, kämmt sich das Haar und stürzt in die Küche. Was er wohl haben mag? Sie zergrübelt sich den Kopf, dabei hantiert sie mit flinken Bewegungen, setzt Sahnekännchen und Zuckerdose auf das Tablett und trägt alles in ihr Wohnzimmer.
Hartmann hat es sich bequem gemacht. Die Beine weit von sich gestreckt, sitzt er regungslos und starrt vor sich hin.
Sie setzt das Tablett ab, holt die Tassen aus der Vitrine und stellt sie auf den Tisch. Dabei fällt ihr Blick auf die Mitteilung, die rot angestrichen ist.
»Generaldirektor Albert Gellert vom Illermann-Konzern heute nacht schwer verunglückt. Über sein Befinden bisher nichts Positives bekannt.«
»Mein Gott!« Annemarie nimmt die Zeitung in die Hand und läßt sich auf einen Hocker sinken. »Das – das kann doch nicht möglich sein!« Dann springt sie wie elektrisiert auf. »Wir müssen zu Marina. Sie wird jetzt Trost brauchen.«
Er kann sie soeben noch am Zipfel ihres Morgenmantels schnappen.
»Zuerst meine Tasse Kaffee«, bittet er.
»Natürlich, verzeih.« Kopflos stürmt sie in die Küche und kehrt wenig später mit der Kanne zurück. Sie bedient ihren Verlobten. Ihre Hände zittern dabei.
»Arme Marina – bedauernswerter Albert«, flüstert sie und nimmt Schluck um Schluck. Wenn sie sagen sollte, was sie getrunken hat, sie hätte es nicht gewußt.
»Und Albert Gellert müssen wir auch besuchen«, sagt sie aus ihren Gedanken heraus.
»Zunächst halte ich es für richtig, mit der Klinik zu telefonieren«, entscheidet er, und Annemarie ist froh, daß einer da ist, der für sie handelt. Sie ist sich klar, sie würde in ihrem augenblicklichen Zustand nichts Rechtes zustande bekommen.
Auch das Telefongespräch führt Doktor Hartmann. Annemarie sitzt auf ihrem Hocker dicht neben ihm. Ihre Augen sind vor Erregung noch größer als gewöhnlich.
»Der Professor operiert schon? Können Sie mir die Oberschwester an den Apparat holen? Nein, die Operationsschwester natürlich nicht. Ich meine die diensttuende Oberschwester. Ja, danke!« Er deckt die Hörmuschel mit der Hand zu.
»Da war jemand am Apparat, der leicht angeschlagen ist«, schimpft er vor sich hin. Das Gespräch, das Doktor Hartmann führt, ist kurz, aber aufschlußreich. »Keine Lebensgefahr, leichte Gehirnerschütterung, rechter Arm zweimal gebrochen«, sagt er im Telegrammstil.
»Dürfen wir ihn besuchen?« forscht Annemarie. Er schüttelt den Kopf.
»Das ist vorläufig nur seiner Frau erlaubt.«
»Schön, Konrad, dann müssen wir zu Marina. Sie wird jetzt Freunde nötig haben. Bedenke ihren Zustand. Wollen wir?«
»Halt, Annemarie.« Er kann sie gerade noch zurückhalten. »Schau auf die Uhr und beurteile selbst, ob wir Marina jetzt überfallen können. Vielleicht hat sie eine schlechte Nacht gehabt, vielleicht überhaupt nicht geschlafen. Laß uns in einer Stunde anrufen und vorerst mit Frau von Reimar sprechen.«
»Ja, so wird es richtiger sein«, stimmt sie ihm kleinlaut zu. Sie schämt sich ein wenig. Wenn es sich um Freunde handelt, ist sie geneigt, gleich den Kopf zu verlieren, während Konrad immer klar die Situation zu erfassen und überlegt zu handeln vermag.
Zwei Stunden später sind sie auf dem Weg zu Marina, nachdem sie mit Frau von Reimar telefoniert haben.
*
Marina ist ruhiger geworden, seitdem Annemarie bei ihr wohnt, damit sie einen Menschen hat, mit dem sie sich rückhaltlos aussprechen kann.
Täglich fährt sie in die Klinik, und täglich begrüßt sie der Professor. Die stille, reizvolle Frau mit den rührend traurigen Augen hat es ihm angetan.
Schade, denkt er oft, wenn er neben ihr dem Krankenzimmer zustrebt, daß man schon so viele Jahre auf dem Bukkel hat. Man könnte ihretwegen noch Dummheiten machen. Dann schämt er sich solcher Gedanken.
Aber wann wäre ein Mann so gänzlich unberührt an einer schönen Frau vorübergegangen? Und Marina Gellert ist, zumal in ihrem augenblicklichen Zustand, ergreifend schön.
»Heute hat er sich mit mir unterhalten«, raunt er Marina erfreut zu. »Ein sehr gutes Zeichen. Ihr Gatte muß eine eiserne Konstitution besitzen. Sofort hat er alle möglichen Fragen gestellt. Am liebsten wäre er aufgesprungen und in den Konzern gefahren. Es muß auch einmal ohne den Herrn Generaldirektor gehen.«
Schweigend nickt sie zu seinen Worten. Ihr Herz beginnt schneller zu schlagen, als sie über die Schwelle tritt. Blumen, überall Blumen. Sie hat den Garten plündern lassen, sie kommt nie mit leeren Händen.
Mit seinen hellen Augen sieht er ihr erwartungsvoll entgegen. Sie muß ein Aufschluchzen unterdrücken. Zaghaft nimmt sie den Platz neben seinem Bett ein. Sie nimmt seine Linke, drückt sie zart und läßt sie schnell wieder sinken.
Lautlos hat der Professor die Tür hinter sich geschlossen. Das Ehepaar wird sich einiges zu sagen haben.
Gellerts Blick umschließt das schmalgewordene Gesicht Marinas mit einem langen Blick, dann verzieht er den Mund. Es ist nur die Andeutung eines Lächelns.
»Beinahe wärest du mich losgeworden«, sagt er mit seiner sonoren Stimme.
Sie sagt nichts, sie macht auch keine erschreckte Gebärde. Nur ihre tieftraurigen Augen, übernatürlich groß und dunkelumrändert, sehen ihn unverwandt an.
»Du bist krank. Man darf deine Worte nicht ernst nehmen«, raunt sie schließlich. »Wie geht es dir? Hast du Schmerzen? Du warst sehr lange bewußtlos.«
Er dreht den Kopf etwas seitwärts. »Manchmal ist mir der Gedanke gekommen: Besser, ich wäre nicht wieder aufgewacht.«
Sie preßt beide Hände gegen den Mund. »O nein, das darfst du nicht sagen. Für jede Stunde, die man leben darf, muß man dem Herrgott dankbar sein.«
Er schweigt im Trotz. Auch wenn der Herrgott einem eine aussichtslose Liebe ins Herz gelegt hat? Während der vielen Stunden, die er grübelnd in der Einsamkeit seines Krankenzimmers verbracht hat, kreisten seine Gedanken unaufhörlich um Marina und seine Liebe zu ihr, die ausweglos scheint.
Und nun sagt sie ihm Worte, die ihn trösten sollen. Er möchte sich aufbäumen vor Hilflosigkeit und Ohnmacht. Was nützt ihm sein Leben ohne Marinas