hinnehmen! Die Augen würde ich Inge auskratzen oder ihr eins ordentlich überhauen, damit sie nicht mehr so sinnlos schwatzen kann.«
Angelas Brust hob und senkte sich stürmisch unter den zitternden Atemzügen. Sie war so erschüttert, daß sie nicht ein Wort über die Lippen brachte. Einen Lebemann – einen bekannten Lebemann nannte man ihren Vater!
Und zu diesem Vater, über dessen leichtsinniges Wesen ihr erst gestern so richtig die Augen aufgegangen waren, sollte sie sich bekennen?
Etwas trieb sie, den Mund zum Sprechen zu öffnen, dann aber stieg das schmale Gesicht der Mutter vor ihr auf, sie sah die geliebten Augen in Tränen schwimmen. Das gab den Ausschlag. Niemals wieder würde ihre Mutter so glücklich und zufrieden sein können, wie sie es die letzten Jahre gewesen war, wenn sie erfuhr, daß Reimer sich in ihrer Nähe befand – oder gar, wenn sie wußte, wie sehr er sie, ihr Kind, quälte.
»Angela!« rief Susanne mit leisem Entsetzen.
Da wandte sie den Kopf der Freundin zu. Ihre Augen lagen tief in den Höhlen, Verzweiflung brannte darin. Susanne sah aber im Augenblick nur die äußerlich verwandelte Angela mit dem müden Gesicht. Man warf ihr vor, daß sie mit einem Lebemann verkehrte? Ganz ohne Beweis konnte man das eigentlich nicht tun. Sah Angela nicht aus, als käme sie keine Nacht ins Bett? Trieb sie sich draußen herum?
Alles bäumte sich in ihr auf gegen diese Annahme. Wie vor den Kopf geschlagen kann sie sich vor, als Angela tonlos erklärte:
»Was Inge gesagt hat – stimmt.«
Susanne saß wie erstarrt da, und wenn nicht im gleichen Augenblick Dr. Kant das Zimmer betreten hätte, wäre sie in Tränen bitterer Enttäuschung ausgebrochen.
Die Stunde nahm ihren Anfang.
Schon bei seinem Eintritt hatte Dr. Kant die Nervosität der Mädels empfunden, und auch der Unterricht verlief nicht so glatt wie sonst. Mehrmals ging sein Blick zu Angela Martens, die starr zu Boden sah und sich in keiner Weise am Unterricht beteiligte.
Jetzt war es ihm klar, daß das Mädel irgendein Leid mit sich herumtrug. Deshalb vermied er, ihr eine Rüge zu erteilen.
Nach Schluß der Stunde wandte er sich an die verstört aufsehende Angela:
»Bitte tragen Sie mir den Brenner ins Physikzimmer, Angela.«
Ihre Hände zitterten so heftig, als sie nach dem Brenner griff, daß er ihr helfend beispringen mußte. Mit schleppenden Schritten ließ er sie vorangehen.
Wortlos stiegen sie in das nächste Stockwerk, während er sonst einen kleinen Scherz zu machen pflegte. Aber Angela fiel das nicht einmal auf. Sie war plötzlich gleichgültig geworden. Nur wenn sie an die Mutter dachte, zitterte jeder Nerv in ihr.
Sie setzte den Brenner an den bestimmten Platz und wollte an Dr. Kant vorbei aus dem Raum huschen, da stellte er sich aber unvermutet in den Weg.
»Einen Augenblick, Angela!« bat er.
»Bitte«, sagte sie leise und senkte unter seinem forschenden Blick die Lider.
»Jetzt sagen Sie mir einmal, was Sie bedrückt, Angela«, begann er vorsichtig. »Sie haben doch irgend etwas! Schon seit einiger Zeit beobachte ich Sie.«
Er fühlte, wie ihre Schultern unter seinem Griff zusammenzuckten, und wußte, daß er richtig vermutet hatte.
»Nichts, Herr Doktor«, antwortete sie nach einer Weile.
Seine Miene wurde traurig.
»Nichts, Angela?« wiederholte er geduldig. »Wirklich nichts? Oder haben Sie kein Vertrauen zu mir, Ihrem alten Lehrer?«
Zittern lief über Angelas schlanke Gestalt. Ihr Inneres stand in hellen Flammen. Sie fühlte sich immer mehr in die Enge getrieben. Vor innerer Ratlosigkeit biß sie sich die Lippen wund, aber – sie schwieg.
Da ließ er sie los, ging ein paarmal hin und her und blieb dann mit verändertem Gesicht vor ihr stehen.
Kalt, ohne Güte war seine Stimme, so daß sie fühlte, wie ihr alles Blut zum Herzen jagte.
»Sie haben mich bitter enttäuscht, Angela Martens. Für so verstockt hätte ich Sie nicht gehalten. Sie wollen ableugnen, daß Sie verändert sind, daß etwas nicht stimmt bei Ihnen? Wollen Sie etwa auch ableugnen, daß Sie gestern in Gesellschaft eines sogenannten Lebemannes in einem Weinlokal zweifelhaften Rufes gewesen sind?«
Angela wankte, und es sah aus, als wolle sie umfallen.
Ehe er sie stützen konnte, hatte sie sich bereits wieder in der Gewalt. In ihrem Gesicht zuckte und arbeitete es. Aus dem Mund des allzeit gültigen und verehrten Lehrers ihren Vater abermals einen Lebemann nennen zu hören, ging über ihre Kraft.
»Nein, nein«, schrie sie verzweifelt auf, das – das ist nicht wahr!«
»Leugnen Sie nicht!« fauchte er, aber er mußte sich in diese zornige Stimmung hineinsteigern. »Natürlich kommt der Vorfall vor den Direktor, und die Folge davon ist – daß Sie von der Schule fliegen.«
Angela hob die schönen klaren Augen.
An den langen dunklen Wimpern hingen die Tränen wie Tautropfen.
»Ich habe die beste und gütigste aller Mütter«, entrang es sich ihr in ungeheurer Qual. »Sie hat mir von jeher Opfer über Opfer gebracht, und sie ist so stolz darauf, mir den Besuch des Gymnasiums ermöglichen zu können. Sie wäre todunglücklich, wenn sie erführe, daß – daß ich – von der – Schule fliege.«
Dr. Kant trat rasch fort von ihr, stellte sich ans Fenster und starrte ratlos in den leeren Schulhof. Von dem Seitengebäude kam eine Klasse der Kleineren vom Turnen, und das helle Jauchzen der Kinder drang zu ihm herauf.
Er entsann sich, daß er gerade Angela Martens niemals so von Herzen fröhlich gesehen hatte, immer lag etwas Bedrücktes über ihr.
Wer weiß, was für eine harte Jugend hinter dem Mädel lag. Nach ihrem letzten Geständnis kam es ihm doppelt irrsinnig vor, Angela zuzutrauen, daß sie heimliche Wege ging, vor allem unsaubere Wege.
Rasch kam er auf sie zu.
»Zweimal haben Sie mich bitter enttäuscht, Angela, gestern, als ich Sie sah – und ich hatte Sie für das wahrhaftigste Menschenkind gehalten…«
»Herr Doktor«, sagte Angela schluchzend, »gestern konnte ich nicht sprechen, aber heute kann ich es. Das heutige Vorkommnis trennt mich sowieso von dem weiteren Besuch der Schule. Ich habe bisher geschwiegen, aber aus einem ganz anderen Grund, als Sie anzunehmen scheinen.«
Auf einmal war das blasse, zuckende Mädchengesicht in flammende Glut getaucht, und der Kopf senkte sich wie unter einer schweren Last.
»Sie haben schon recht gesehen, Herr Doktor, ich befand mich in Gesellschaft eines Mannes in dem betreffenden Weinlokal, aber gegen meinen Willen, glauben Sie mir! Ganz außer mir geriet ich, als auch Sie – diesen Mann als einen Lebemann bezeichneten, denn ihnen glaube ich, und doch sträubt sich noch alles in mir, so daß ich ganz verzweifelt bin und nicht mehr weiß, was ich tun soll. Dieser Mann ist nämlich mein – Vater!«
Nichts hätte Dr. Kant mehr überraschen können als dieses Geständnis. Seine Hand hob sich, sank aber wieder zur Seite. Er hätte gern den in Scham gesenkten Kopf des Mädchens gestreichelt, aber er wagte es nicht.
Sein Herz war voll Mitleid, und er bat ihr im Innern alles ab, was er über sie gedacht hatte.
Freude goß sich wie ein helles Licht über sein gütiges Gesicht. Sie wußte nicht, was sie ihm mit ihrer Offenheit zurückgegeben hatte: den Glauben an seine Menschenkenntnis.
»Ich glaube« – er zwang sich zur Ruhe – »man wird sehr mild über Ihr Vergehen urteilen, denn sicher haben die Mädel sie in Gesellschaft Ihres Vaters gesehen, ohne zu wissen, wer er war. Und Sie haben den schlechten Eindruck durch Ihr Schweigen noch vertieft! Folgerichtig haben sich die Mädel dagegen aufgelehnt – vielleicht wurden Sie sogar gequält?«
Angela