Sie scheinen jetzt in sehr guten Verhältnissen zu leben.«
Seine Stimme hat einen hochmütigen Klang. Leonore kennt auch diese Reaktion. Vor Jahren hätte sie nicht anders gesprochen.
»Glauben Sie mir, obwohl ich jetzt in guten Verhältnissen lebe, nie habe ich vergessen, daß ich einmal bittere Not kennengelernt habe. Heute, inmitten der ausgelassenen Gesellschaft, überkam mich plötzlich die Unlust. Auf einmal begann ich meine Umgebung, an die ich mich längst gewöhnt glaubte, mit anderen Augen zu betrachten. Ich fand alles um mich herum sinnlos und töricht. Meine Freunde, soweit man überhaupt von solchen sprechen kann, benahmen sich unter dem Einfluß des Alkohols albern. Ich lief davon. Allein sein wollte ich. So kam ich hierher und traf in dieser Stimmung auf Sie. Sie wirkten auf mich wie – wie mein Gewissen.«
Um sie herum setzt das tägliche Leben ein. Aus dem Lautsprecher werden ankommende und abfahrende Züge angesagt. Reisende kommen und gehen. Die Tische werden besetzt. Kellner laufen geschäftig hin und her.
Irgendwo plärrt ein Kind.
Langsam versinkt das Bild vor Leonores Augen, und ein anderes entsteht vor ihr. Auch ein Wartesaal. Nur ein kleiner, verwahrlost, der Fußboden schmutzig, ein uralter Kellner im abgewetzten Anzug und überall Menschen, Menschen, auf Stühlen, Bänken und Koffern. Jeder kleinste Platz ist belegt. Und sie scheu in einer Ecke auf einer Holzkiste, die ihre Habseligkeiten birgt. Eine abgenutzte Tasche hält sie fest an sich gepreßt. Sie enthält ihren kostbarsten Schatz: Inkas Bild. Das Bild eines süßen kleinen Mädchens, mit dunklen Haaren und großen samtdunklen Augen.
Ein Bild ist alles, was von ihrem Kind übrig geblieben ist auf der Flucht, als die Bomben fielen. Wie eine Wahnsinnige hat sie, nachdem alles vorüber war, nach Inka gesucht. Von einem zum anderen ist sie gelaufen, Verzweiflung im Herzen, und nur von dem einen Wunsch getrieben: Ich muß Inka wiederfinden. – Aber man hat sie nicht gefunden.
Teilnahmslos, wie ausgebrannt, wurde sie mit den anderen fortgetrieben. Das Leben hörte nicht auf, es ging weiter, auch ohne Inka, so sehr ihr Herz auch nach dem Kinde schrie. Inka war tot. Daran war nicht mehr zu zweifeln. Alles, was sie später auf die Beine gestellt hatte, verlief im Sand. Von Inka fand sich keine Spur mehr.
Die Erinnerung hat sie überwältigt. Langsam rinnt eine Träne über ihre Wange. Wendhoff bemerkt dieses lautlose Weinen, und er spürt, daß sein Herz noch nicht ganz verhärtet gegen das Schicksal anderer ist.
»Sie scheinen Hilfe nötiger zu haben als ich«, sagt er teilnehmend.
»Verzeihen Sie, ich benehme mich kindisch.« Sie strafft sich und zieht ihren eleganten Mantel fröstelnd über der Brust zusammen. Er hat längst das kostbare Abendkleid mit dem tiefen Ausschnitt bemerkt, das zarte weiße Haut und einen schönen Brustansatz freigibt. Er ist irritiert. Wie lange ist es her, daß er einer schönen Frau gegenübersaß und sie ihn wie ihresgleichen behandelte, ihn – den arbeitslosen Mann ohne Zukunft.
Wie lange ist es her, daß er eine Frau im Arme hielt und weiche Hände sein Gesicht streichelten und weiße Arme sich um seinen Hals schlangen?
Eine Ewigkeit – und er selbst kommt sich uralt vor.
»Darf ich Ihnen einen Vorschlag machen?«
Langsam dreht er ihr den Kopf zu. »Bitte!«
»Kommen Sie mit zu mir. Eine Tasse Mokka wird uns beiden guttun, und Ruhe. Hier sind zuviel Menschen.«
Unschlüssig blickt er sie an. Er spürt, das ist kein verlockendes Angebot, das ihm eine gelangweilte Frau macht. Ihre Bitte kommt aus einem verstehenden, mütterlichen Herzen.
»Gern«, sagt er einfach.
*
Gert Wendhoff hat sich bequem in das rote Polster des schweren Wagens gelegt. Er wagt keinen Seitenblick auf die Frau hinter dem Lenkrad. Er sieht nur die schmale Hand, jetzt von feinstem Leder umspannt, wie sie ruhig und sicher den Wagen durch den rege gewordenen Verkehr lenkt.
Merkwürdig! sinnt er, wieviel Spanne ist vergangen, seitdem er in trostloser Stimmung aus dem Zug stieg? Jetzt sitzt er neben einer schönen Frau und fährt mit ihr in ein fremdes Haus.
Leonore Breitenstein! Schöner Name! Leonore!
Er paßt zu der Trägerin genau wie das dezente Parfüm, das aus ihrer Kleidung strömt und ihn umschwebt.
Sie haben die Innenstadt verlassen und passieren eine breite, baumumstandenen Straße, fahren vorbei an blühenden, gepflegten Gärten. Manchmal huscht eine helle Fassade eines der schönen neuen Häuser vorbei. Und dann sieht er, als er den Blick nach links wendet, die Elbe.
In Blankenese ändert sie die Fahrtrichtung. Das Blinklicht am Wagen flammt auf. Als der Gegenverkehr eine Minute stockt, steuert sie in ein geöffnetes Tor. Langsam rollt der Wagen an der Seite eines der Häuser vorbei, das in seiner modernen Bauart sein berufliches Interesse erweckt.
»Da wären wir«, sagt Leonore Breitenstein, und ehe er noch helfend beispringen kann, hat sie sich schon aus dem Wagen geschwungen und geht auf den Eingang zu. Eine geräumige Halle mit sehr viel Blumen und einem eingebauten Kamin tut sich vor ihm auf. Sein schönheitsdurstiges Auge nimmt jede Einzelheit wahr.
Sie beobachtet ihn stumm. Sein Gesichtsausdruck sagt ihr mehr als alle Worte.
Als im Hintergrund eine ältliche Frau in weißer Schürze auftaucht, nimmt sie ihm den Koffer aus der Hand. »Hier, Doris, bringen Sie den Koffer in das Gästezimmer mit dem Blick auf die Elbe.«
»Jawohl, gnädige Frau!«
Nach einem kurzen, abtastenden Blick auf den abwartend dastehenden Gert Wendhoff geht sie über die gewundene Treppe in das Obergeschoß.
»Meine Haushälterin«, stellt Leonore die auf der Galerie verschwundene Frau vor. »Sie ist ein treuer, zuverlässiger Mensch und wird auch Sie gern bemuttern.«
Verständnislos blickt er sie an. »Wollen Sie damit sagen, daß ich hierbleiben soll?«
»Natürlich!« Sie lacht leise auf. Es ist ein warmes, einnehmendes Lachen. »Glauben Sie, ich würde Sie wieder davonlaufen lassen? Kommen Sie, Herr Wendhoff, nicht wahr, so war doch Ihr Name?«
»Gewiß«, beeilt er sich, ihr zu versichern. »Wollen Sie meine Papiere sehen?«
Röte schlägt ihr bis unter das
dunkle Haar. »Später mal. Ich glaube auch so an Sie.«
Sie geht in die Garderobe, und er folgt ihr, hilft ihr aus dem Mantel und hängt seinen Trenchcoat daneben.
»Jetzt lassen wir uns einen Mokka kochen«, wendet sie sich freundlich an ihn, bemerkt seinen bewundernden Blick, der ihrer schlanken Gestalt im eleganten Abendkleid gilt. »Entschuldigen Sie, ich ziehe mich rasch um. Wenn Sie sich etwas frisch machen wollen?«
»Sehr gern, wenn es möglich wäre?«
»Kommen Sie, bitte.«
Neben ihr steigt er die teppichbelegte Treppe empor. Auf dem Gang zur Linken öffnet sie eine Tür. »Hier ist das Badezimmer. Sie finden alles, was Sie im Augenblick brauchen.« Ein Lächeln geht über ihr schönes, schmales Gesicht. »Allerdings, einen Rasierapparat finden Sie nicht. Ich bin auf Herrenbesuche nicht eingerichtet.«
Also gibt es keinen Mann in ihrem Leben. Er empfindet bei dem Gedanken Freude.
Nach zehn Minuten steht er wieder in der Halle.
Aus einem der Sessel erhebt sich Leonore und geht ihm lächelnd entgegen. Sie hat sich blitzschnell umgezogen und nur ihr Gesicht zurechtgemacht.
Sie trägt einen weitschwingenden Rock und einen hellen Pullover. Sie sieht jung und erfrischt aus, und ihr Lächeln erwärmt ihn noch mehr für sie.
»Den Kaffee trinken wir im Wintergarten. Kommen Sie«, fordert die ihn auf, und sie empfindet es angenehm, daß er ihr an dem wie hergezauberten Frühstückstisch den Sessel zurechtrückt und ihr ein Kissen hinter den Rücken schiebt. »Danke schön.«
Wie