Karin Bucha

Karin Bucha Paket 1 – Liebesroman


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hätte sich lieber an einem der Stände Brötchen kaufen sollen, anstatt hier den Kaffee zu trinken. Aber er wird das Gefühl des Hungers überwinden, wie er es in letzter Zeit häufig hat überwinden müssen.

      Er hockt hinter seiner Zeitung und hat für nichts anderes Interesse. Er ist dreißig Jahre alt, gut gewachsen, mit einem schmalen, jetzt etwas zu schmalen Gesicht mit angenehmen Zügen, klaren Grauaugen, die mißtrauisch und prüfend dreinblicken.

      Sein Anzug ist sauber, wenn auch abgetragen. Sein Oberhemd verknüllt durch die Bahnfahrt. Aber seine Krawatte sitzt tadellos, wie bei einem Mann, der auf sein Äußeres hält.

      Er kommt sich dennoch unsauber vor. Er möchte ein Bad nehmen, sich rasieren und in das letzte frische Oberhemd steigen.

      Ach, er möchte so vieles und kann doch gar nichts tun. Er hat keine Freunde mehr und keine Verwandten. Er hat kein Heim mehr. Er ist ein Mensch geworden, der das Vertrauen zu sich selbst verloren hat.

      Die Zeitung hat er längst sinken lassen, und der Kaffee erkaltet. Er stiert vor sich hin, und die ganze trostlose Lage, in der er sich befindet, packt ihn, daß er aufheulen könnte wie ein Kind, das sich verlaufen hat und nicht heimfinden kann.

      *

      Leonore Breitenstein hat ihren Mercedes bestiegen und ist allein durch die Straßen, die langsam zum täglichen Leben erwachen, gefahren. Sie hat es plötzlich nicht mehr auf Tinas Party ausgehalten.

      Sie sieht die Freunde und Bekannten vor sich, die sich bei Ludwig Crämer zusammengefunden hatten. Schon um Mitternacht hatte sie die kleine Gesellschaft verlassen wollen, doch man ließ sie nicht weg. Reinhold Schnitzler, dem sie nun doch entschlüpft ist, hat sie mit ganzer Überredungskunst festgehalten. Die Stimmung wurde immer gehobener. Es wurde viel getrunken und sinnloses Zeug geredet, weil die Zunge versagte und die Sinne vom Alkohol umnebelt waren. Sie hatten getanzt, und selbst der Mokka hatte sie nicht ganz nüchtern gemacht.

      Plötzliche Unlust hatte Leonore überfallen, und so war sie einfach verschwunden, da keiner Anstalten traf, das gastliche Haus Crämers zu verlassen.

      Als sie dicht vor dem Bahnhof war, folgte sie einer Eingebung und parkte.

      Sie wollte etwas trinken und suchte den Wartesaal auf. Sie wollte allein sein und strebte auf den freien Ecktisch zu. Als sie Platz genommen hatte, sah sie auf dem Tisch eine Zeitung und benutztes Geschirr. Sie raffte ihre Handtasche und Handschu-

      he auf, um den Platz zu wechseln, als

      eine sonore Stimme an ihr Ohr schlug.

      »Behalten Sie bitte Platz, ich gehe gleich.«

      »Danke!« sagte sie und ließ sich wieder nieder.

      Wendhoff hatte sich zwei Brötchen vom Verkaufskiosk in der Halle geholt, die er nun trocken zum Rest des Kaffees aß. Dazu las er die Stellenangebote in der Zeitung.

      Leonore bestellte ihre Brause und blickte um sich. Auf der Zeitung dicht vor ihr blieb ihr Blick haften. Im gleichen Moment legte der Mann sie aus der Hand. Leonore sah zur Seite.

      Wie angezogen wandte sie aber gleich darauf den Blick ihrem Gegenüber wieder zu. Seine Grauaugen musterten sie ungeniert, und sie fühlte sich abermals unsicher.

      Sie ahnte nicht, daß sie für Wendhoff eine Augenweide war mit ihrem gepflegten Äußeren, ihrer Schönheit. Auf ihren schmalen Händen, die einen kostbaren Stein trugen, blieb sein Auge haften.

      Alles an ihr atmete Wohlhabenheit. Wendhoff kam das Ungewöhnliche seines Benehmens zum Bewußtsein. Man starrte eine Dame nicht so auffällig an.

      »Verzeihung«, murmelt er, und Leonore lächelt leicht. Er sieht wie ein Junge aus, der bei einer Dummheit ertappt ist.

      »Ich habe nichts zu verzeihen«, sagt sie, und sie beginnt, den Mann aufmerksamer zu betrachten. Seine Stimme hat es ihr angetan.

      »Doch. Es war unhöflich von mir, Sie so anzustarren, aber…« Er bricht ab und merkt, wie es ihm heiß in die Stirn schießt.

      »Aber…?« lockte sie.

      »Sie sind sehr schön«, gesteht er ehrlich. »Ich habe lange keine so schöne Frau gesehen.«

      Er sagt das mit ungewöhnlichem Ernst, beinahe widerwillig. Sie mustert ihn weiter. Dann sagt sie aus ihrem Sinnen heraus:

      »Spätheimkehrer?«

      »Ja.«

      Das klingt unfreundlich, und es hat den Anschein, als wollte er mit diesem einzigen Wort eine Mauer zwischen sich und ihr aufrichten.

      »Jetzt muß ich mich entschuldigen. Ich war taktlos«, sagt sie.

      »Sieht man es mir so deutlich an?«

      Ihre unwahrscheinlich blauen Augen unter der klugen Stirn sehen ihn ohne Spott an. Ihr weicher Mund lächelt leicht.

      »Nicht so sehr«, erwidert sie nach einer Pause. »Ihre Scheu hat mich auf den Gedanken gebracht. Sind Sie in Hamburg zu Hause?«

      »Ich habe kein Zuhause mehr«, stößt er abermals unwillig hervor. »Das Beste wäre, man machte einfach Schluß. Blödsinn, in diese Stadt zu kommen, als ob man ausgerechnet auf mich gewartet hätte.« Er sagt das voll Bitterkeit und wie zu sich selbst. Sie wird hellhörig. Da ist ein Mensch, der verzweifelt ist und Hilfe nötig hat. Sie versinkt in Nachdenken. War sie nicht auch einmal in einer solchen Verfassung? Und war es nicht auch ein Fremder, der ihr damals geholfen hat und sie später heiratete? Hat Ernst Breitenstein ihr nicht liebreich die Hand gegeben und sie in geordnete Verhältnisse, in Wärme und Geborgenheit geführt?

      Sie hebt den Blick und sieht mitten hinein in die hellen Augen, auf deren Grund Verzweiflung steht.

      »Ich kenne diesen Zustand…«

      Er macht eine kleine Verbeugung. »Gert Wendhoff.«

      »Ich bin Leonore Breitenstein.« Wieder lächelt sie, und sie zieht ihn damit ungemein an. »Ja, auch ich war einmal verzweifelt und wollte Schluß machen.«

      Sie blickt vor sich hin und spielt mit dem Löffel. Er muß immerzu auf die schöngeformte Hand mit dem kostbaren Stein blicken.

      Plötzlich hat er nicht mehr das bedrückende Gefühl der Einsamkeit. Ein Mensch sitzt ihm gegenüber, der zu ihm spricht, der ihn trösten will, der Anteil an seinem Schicksal nimmt. Eigentlich ist das wie ein Wunder. Inmitten einer Millionenstadt gibt es einen Menschen, der ausgerechnet ihm sein Herz ausschüttet. Denn daß die Frau, die er vor kurzem noch nicht gekannt, das Bedürfnis hat, über sich und ihre Erlebnisse zu sprechen, das spürt er genau. Er trinkt ihre weiteren Worte fast in sich hinein. Schon dieser warmen, wohltuenden Stimme zu lauschen, bringt die vielen verwirrenden Gedanken in ihm zur Ruhe.

      »Mein verstorbener Mann hat mich buchstäblich von der Straße aufgelesen. Ohne zu fragen, wer ich bin und woher ich kam, nahm er mich mit sich. Ich hatte plötzlich ein Dach über dem Kopf. Ich bekam ein langentbehrtes gutes Essen, und ich wurde nicht ausgefragt. Alles war für Ernst Breitenstein selbstverständlich. Er war ein guter Menschenkenner. Er war auch voller Geduld. Er wartete, bis ich von mir aus zu sprechen begann, und dann griff er helfend ein.

      In seinem Juweliergeschäft, das angesehen und gut eingeführt war – es befand sich bereits seit drei Generationen in den Händen einer Familie – gab er mir einen Arbeitsplatz. Langsam, ganz langsam, nahm ich Fühlung mit meiner Umwelt, die mir äußerst gleichgültig war. Viel konnte ich ihm zunächst nicht helfen. Aber was ich tat, tat ich mit dem Einsatz meiner ganzen Persönlichkeit. Ich kämpfte mit allen Mitteln um diesen Arbeitsplatz. Ja – und dann wurde ich seine Frau. Ganz langsam wurde aus der Achtung Zuneigung…«

      Sie verstummt, und er stört sie nicht. Zuneigung hat sie gesagt – nicht Liebe. Ja, aus Dankbarkeit kann auch eine Art von Liebe entstehen.

      »Warum erzählen Sie mir das alles, mir, einem Fremden?«

      Das klingt unhöflich, beinahe grob.

      Sie verliert ihre Ruhe nicht. Sie lächelt nur und sieht von ihren