»Du kannst auch sehr gut ohne uns leben, aber Reni braucht eine Mutter, die immer für sie da ist. Und diese Mutter ist Gitta. Daran möchte ich nichts ändern, das würde Reni auch nur krank machen. Und letztendlich würdest du auch nie genug Zeit für sie haben.«
»Wir könnten uns eine Kinderfrau leisten.«
»Nein«, entgegnete er hart. »So etwas kommt gar nicht infrage. Ich weiß nicht, was dich dazu bewogen hat, uns zu besuchen, aber besonders gut war dieser Entschluss nicht. Und wenn du unsere Tochter nicht in einen Konflikt bringen willst, dann bleibe für sie eine nette Tante, die sich ab und zu mal sehen lässt.«
»Ich bin immer so allein in München«, gestand sie kleinlaut. »Da dachte ich …«
»Da dachtest du, der Henrik wirft alles hin, was er sich hier aufgebaut hat, verlässt Freundin und Oma, nimmt das Kind und kommt zu dir nach München. Nein, so geht das nicht. Das ist mir inzwischen klar geworden.«
»Aber wir lieben uns doch noch.«
»Nein«, stellte er richtig. »Wir begehren uns nur. Wenn es mehr wäre, hättest du nachgedacht und würdest dir hier eine Stellung suchen, damit du Beruf und Familie miteinander vereinbaren kannst. Doch das willst du ja gar nicht. Ich soll alles aufgeben, kann mich demzufolge auch kaum noch um meine Großmutter kümmern, die mich aufgezogen hat. Und Reni soll von einer Kinderfrau betreut werden.«
Evelin ging auf die alte Frau nicht ein, sie erwiderte nur: »Andere Ehepaare halten sich auch ein Kindermädchen. Daran ist nichts Schlimmes.«
»Was andere Ehepaare machen, interessiert mich nicht. Und ich werde hier auf keinen Fall wegziehen.«
Evelin wurde bewusst, dass ihre sehr spontanen Zukunftspläne mit Mann und Kind der Wirklichkeit nicht standhielten. Natürlich hatte sie ihre Tochter gern, Henrik auch, aber sie konnte sich nicht vorstellen, mit Ausnahme von leidenschaftlichen Liebesstunden zum Familienleben beizutragen.
»Du hast recht«, entgegnete sie leise und erhob sich. »Mit uns, das wird nichts mehr, auch wenn diese Nächte wundervoll waren. Unsere Auffassungen von einem erfüllten Leben sind doch zu verschieden. Und da ich morgen schon ziemlich früh abreise, werde ich mich jetzt verabschieden.«
Er hielt sie nicht zurück, nahm sie aber noch einmal fest in die Arme, küsste sie lange und schien sich nun doch nicht von ihr trennen zu können.
Dass sie dabei von ihrer Tochter beobachtet wurden, bemerkten sie beide nicht.
*
Reni war schnell wieder zu ihrem Zimmer gelaufen, hatte sich auf ihr Bett geworfen und das Gesicht ins Kissen gedrückt. Vollkommen verstört schluchzte sie leise, denn immerhin verstand sie schon, dass ihr Papa wohl auch noch eine andere Frau lieb hatte, nicht nur ihre Tante Gitta. Aber vielleicht kam die auch gar nicht wieder. Vielleicht blieb die andere nun für immer hier.
Jetzt sprachen sie miteinander, kamen herein, und Reni hörte, wie der Vater halblaut sagte: »Sie schläft, und das ist auch gut so.«
Die beiden entfernten sich, und dann war alles still.
Die Kleine blieb jedoch in ihrem Bett liegen, ihre Lieblingspuppe fest an sich gedrückt. Ihre Gedanken wirbelten durcheinander wie aufgescheuchte Vögel, bis sie nach einer Weile wirklich einschlief.
Henrik hatte unterdessen die Spuren von Evelins Aufenthalt beseitigt, hatte aufgeräumt, die Betten neu bezogen und die Wäsche gleich in die Waschmaschine befördert. Anschließend hatte er geduscht und seine Wohlfühlklamotten übergestreift.
Danach ging er zum Kinderzimmer, um nachzusehen, ob sein Kind inzwischen ausgeschlafen hatte. Es war wieder wach, saß aber noch auf dem Bett, musterte den Vater mit bösen Blicken und fragte argwöhnisch: »Ist die olle Tante endlich wieder weg?«
»Deine Mutter ist abgereist. Ich soll dir herzliche Grüße bestellen.« Er setzte sich neben sie und wollte sie auf seinen Schoß nehmen, doch sie strebte von ihm fort und rief: »Wann kommt Tante Gitta wieder? Ich vermisse sie schon so sehr.«
»Ich weiß es nicht, aber bestimmt bald«, versuchte er, seine aufgeregte Tochter zu beruhigen. »Und morgen machen wir drei uns einen schönen Tag, gehen Eis essen und Enten füttern.«
Reni antwortete nicht sofort, sie zupfte an ihrer Puppe herum und stieß schließlich entrüstet hervor: »Ich hab gesehen, wie du die geküsst hast, so wie im Fernsehen und gaanz lange.«
»Das …, das … war nur … zum Abschied«, stotterte er sichtlich verlegen und fühlte sich wie kalt erwischt. »Das hat gar nichts zu … bedeuten.«
»Tante Gitta! Tante Gitta!« Das kleine Mädchen beachtete den sehr nervösen Vater nicht mehr. Es sprang aus dem Bett und eilte vor Freude laut jauchzend auf die schon so sehr Vermisste zu, die eben zur Tür hereingekommen war.
Gitta nahm das Kind in die Arme, drückte es an sich, ihr Blick ging jedoch zu Henrik, der ihr wie das personifizierte schlechte Gewissen vorkam. Kein Wunder, er hatte ›die‹ ja gaanz lange so wie im Fernsehen geküsst. Und wer ›die‹ war, konnte sie sich denken, hatte ohnehin geahnt, dass er die Hände nicht von ihr lassen würde.
Sie versuchte, sich ihre Enttäuschung und Verzweiflung nicht anmerken zu lassen, was ihr auch recht gut gelang. Henrik hatte mit sich zu tun, die Röte der Beschämung war ihm deutlich anzusehen,
Reni hingegen nahm strahlend das Päckchen in Empfang, das Gitta ihr in die Hand drückte.
»Was ist da drin?«
»Mach es auf, dann weißt du es.«
»Du musst mir helfen.«
Gitta nickte nur und half der Kleinen dann beim Auspacken. Zum Vorschein kamen eine Tüte mit Schokoladenkäfern und ein rot-weiß gestreiftes Etwas mit großen Kulleraugen, Katzenohren und Reißverschluss.
»Das ist ein Sorgenfresserchen«, erklärte sie dem Kind. »Dem kannst du einen Namen geben und ihm alles anvertrauen, was dich ärgert.«
»Und wie soll ich das machen?«
»Solange du noch nicht schreiben und lesen kannst, malst du ganz einfach ein Bild, faltest dieses zusammen und steckst es hier hinein.« Sie hatte inzwischen den Reißverschluss geöffnet, nahm ein Blatt Papier vom Tisch und zeigte der Kleinen, wie das Spielzeug zu gebrauchen war.
»Und wenn es da drin ist, wird alles wieder gut?«
»Ja, Reni, dann wird alles wieder gut«, bestätigte sie, obwohl sie daran nicht glauben konnte. Henrik hatte sich offenbar mit seiner ehemaligen Frau versöhnt, was sie auch erwartet hatte. Das war das Ende ihrer Beziehung. Sie wusste nur nicht, wie sie das dem Kind beibringen sollte.
»Dann male ich jetzt was.« Die Kleine setzte sich auf einen der beiden Stühle, die an einem niedrigen Holztisch standen, nahm sich ein Blatt Zeichenpapier und begann, in ihrer Stifteschachtel zu kramen.
»Das ist eine gute Idee«, meinte Gitta lobend und verließ dann den Raum. Henrik folgte ihr mit einem unguten Gefühl in der Magengegend. Gleich würde sie ihn fragen, wie Reni und er die letzten Tage verbracht hatten.
Das tat sie jedoch nicht. Sie kümmerte sich nur wie immer um das Abendessen, lachte und scherzte mit dem Kind, brachte es zu gewohnter Zeit zu Bett und erzählte ihm eine Gute-Nacht-Geschichte, blieb aber alles in allem ziemlich einsilbig und in sich gekehrt. Und sie packte auch ihre Reisetasche nicht aus. Die stand auch um zwanzig Uhr immer noch im Flur.
Henrik nahm ihr Verhalten mit Sorge zur Kenntnis.
*
Zu späterer Stunde ertrug er dieses Schweigen nicht mehr und erkundigte sich wie nebenbei: »Na, wie war es mit Elsie im Spreewald?«
»Ziemlich anstrengend.« Gitta lächelte gezwungen. »Ich werde daher früh schlafen gehen. Reni braucht mich ja vorläufig nicht.«
»Nein, aber ich brauche dich.«
»Lass deine frommen Lügen!«, fuhr sie ihn heftig an. »Im Bad steht Parfüm, das nicht meines ist, du hast die Betten